Auf der Fan-Meile in Berlin

Berlin

1. Reisetag

0 Kilometer

Auf dem Weg zum Startpunkt des Berlin-Usedom-Radweges komme ich an der Siegessäule vorbei. Dort fallen mir ungewöhnlich viele Absperrungen auf. Ach ja, klar, es ist Fußball-Europameisterschaft und hier beginnt die Fan-Meile. Die Straße des 17. Juni ist von der Siegessäule bis zum Brandenburger komplett für den Autoverkehr gesperrt. Das ist eine seltene Gelegenheit, die ich mir natürlich nicht entgehen lassen darf. Es ist Dienstagmorgen und nur wenige Leute sind unterwegs. Eine wunderbare Atmosphäre auf diesem großen und sonst so stark befahrenen Boulevard. Fußgänger, Skateboarder, Jogger und Fahrradfahrer haben die Straße in Besitz genommen. Ich geniesse die Fahrt in vollen Zügen.

Plötzlich und unvermittelt fährt ein sportlicher, älterer Typ (Rentner, wie sich zeigen wird) neben mir und grüßt freundlich. Er erkundigt sich, ob er mir eine Frage stellen dürfe. Nur zu! Er möchte wissen, ob meiner Meinung nach “für eine Frau mit 170 cm Körpergröße und 65 kg Gewicht, die täglich 3 km fahren muss, ein Klappfahrrad mit 16-, oder mit 18-Zoll-Rädern die bessere Wahl wäre.” Mich beeindruckt diese Frage nicht nur ob ihres Inhalts, sondern auch wegen ihrer erstaunlichen Präzision, die einem nicht alle Tage begegnet.

Eine skurrile Situation, hinter mir die Siegessäule, vor mir das Brandenburger Tor, neben mir der lustige Rentner mit der ulkigen Frage.

Ich stelle mir vor, wie eines abends seine Frau mit ernster Miene ins Schlafzimmer kommt und sagt. “Schatz, wir müssen reden!” Er: “Was ist denn, Liebling?” Daraufhin sie: “Schatz, du weißt doch, ich bin 170 cm groß und wiege 65 kg. Und ich muss doch jeden Tag drei Kilometer fahren. Soll ich da ein Klappfahrrad mit 16- oder 18-Zoll-Rädern nehmen?

NIEMALS, wirklich NIEMALS würde eine Frau so etwas fragen. Die einzige Frauenfrage in dieser Richtung ist doch: “Schatz, nehme ich das Blaue oder das Schwarze?” Und Jungs, wir wissen, darauf gibt es keine Antwort!

Bevor ich meinem Mitradler also diese komplexen Zusammenhänge darlege, antworte ich lieber, dass ich ihm in dieser schwierigen Situation bedauerlicherweise wirklich nicht weiterhelfen könne.

Er wechselt das Thema und erkundigt sich, wohin denn meine Reise gehe. Nach Usedom, Barther Bodden, Kopenhagen, Schweden, Bornholm und Sassnitz.
Und woher ich komme? Aus Ratingen. Nein so ein Zufall! In Ratingen haben sie eine gute Freundin, ob ich sie wohl kennen würde. Sie heißt Sowieso. Leider nein. Also, wenn ich die jetzt auch noch gekannt hätte, würde er Asphalt fressen! Daraufhin überlege ich, ob ich meine Meinung nicht vielleicht doch noch revidieren soll. “Frau Sowieso, hmm, ja. Sowieso? Nein, doch nicht.”

Obwohl, das hätte ich schon gern gesehen!

Die etwas andere Grappa-Degustation

Grado

12. Reisetag

636 Kilometer

Ich nähere mich einem weiteren Höhepunkt meiner Tour. Es geht um Geld, es geht um Alkohol, es geht um eine, nein zwei italienische Familien! Ich bin in Friaul, dem Ursprungsgebiet einiger der besten Weine Italiens. Aber die interessieren mich heute nicht. Ich bin wegen des Grappas hier. “Grappa gibt’s für sowasvonwenig Geld beim Aldi”, werden einige von Euch sagen, “dafür braucht der Trottel nun wirklich nicht bis nach Italien zu strampeln.” Schon klar, aber das Zeug wird üblicherweise aus den Überresten von Weintrauben gebrannt. Alle möglichen Trester verschiedener Trauben werden zusammengekippt, der Resteverwertung zugeführt und das Ergebnis dann zur Entsorgung an Aldi, sowie an die Gastronomen ambitionierter Tennisvereine geliefert.

So wird es in ganz Italien gemacht. Ganz Italien? Nein, ein von einer unbeugsamen Familie bevölkertes Dorf leistet erbitterten Widerstand.

Hier im Örtchen Percoto befindet sich die älteste Grappabrennerei des Friaul. Seit mehr als hundert Jahren ist sie im Besitz der Familie Nonino, nunmehr in der fünften Generation. Die Noninos brennen ihren Grappa nicht aus Trester, sondern aus den ganzen Trauben einer einzigen Rebsorte. Und dazu verwenden sie nicht irgendeine, sondern Picolit. Kennen die meisten nicht, also hier noch ein wenig Klugsch… . Picolit wurde vor über 300 Jahren in Italien sehr geschätzt und zur Produktion des gleichnamigen Süßweines verwendet. Leider ist die Rebe sehr empfindlich und geriet irgendwann in Vergessenheit. Inzwischen wird Picolit wieder hergestellt. Sehr teuer, da nur in geringen Mengen und Lese nur von Hand. Und genau aus diesen Trauben brennen die Noninos ihren Grappa. Hört sich teuer an, ist auch so. Egal, heute will ich (1.) genau diesen Grappa (2.) an seiner Geburtsstätte (3.) bei den Erzeugern (4.) persönlich erstehen. Soweit die graue Theorie, in der Praxis kam mal wieder alles ganz, ganz anders…

Der Tag beginnt mit einem Schock. Denn heute ist der 25. April und das ist in Italien ein Feiertag, Festa della Liberazione. “Alles zu”, bringt es die Dame an der Hotelrezeption auf den Punkt. So schnell können große Pläne platzen. Egal, nun bin ich schon mal hier, jetzt fahr ich auch dahin. Das Dorf präsentiert sich bei der Einfahrt sehr gepflegt, links und rechts Bungalow-artige Häuser mit viel Rasen rundherum und der typischen mediterranen Nonne/Mönch Tonziegeleindeckung. Erinnert mich ein wenig an bessere Viertel in Florida. Den Leuten hier geht es augenscheinlich gut. Der Dorfkern sehr gepflegt, hübsch anzusehen, aber alles zu. Ich suche das Anwesen der Noninos. Nichts zu finden, mein Reiseführer von 2007 offensichtlich überholt. Ein Zeitungskiosk ist geöffnet, hier werde ich mich nach dem Weg erkunden. Im gleichen Augenblick hält ein dicker Mercedes neben mir und ein Herr mittleren Alters im Anzug steigt aus. Wunderbar denke ich, der kann bestimmt deutsch oder englisch. Pustekuchen, er deutet aber auf den Kioskinhaber und dieser erklärt mir dann sehr freundlich, wo es denn lang geht. Allerdings, gibt er zu bedenken, heute Feiertag, “alles zu”. Ich fahre weiter und endlich erreiche ich die Einfahrt zur Produktionsstätte der Noninos. Der Anblick sehr entmutigend. Ein circa acht Meter langes Stahltor versperrt die Einfahrt zu dem Gelände. Wie zu erwarten, völlige Stille, eben “alles zu”. Ich klingle trotzdem. Wie ebenfalls zu erwarten, passiert rein gar nichts. Was nun? In mir kommt der Ingenieur durch. Mangels Alternativen untersuche ich die Wechselsprechanlage. Funktioniert sie überhaupt? Gibt es eine Videofunktion? Ich drücke auf allen Knöpfen rum, versuche verschiedene Kombinationen. Da, lautlos und fast unbemerkt geht plötzlich das Tor auf. “Uups” schießt es mir durch den Kopf, “war ich das?”. Nichts wie rein! Nach 50 Metern komme ich zu einer Tür, die offensichtlich zu einem Büro oder Verkaufsraum führt, allerdings verschlossen. Zwischenzeitlich schließt sich das Tor hinter mir wieder. Ich bin in Hochstimmung und fühle mich wie ein Kind, dass in der Spielzeugabteilung eines Kaufhauses über Nacht eingeschlossen ist. OK, wo soll ich anfangen? Gerade will ich loslegen, da kommt eine Frau um die Ecke. Der getigerten Hose nach zu urteilen, ist sie auf keinem Fall Signora Nonino. Sie begrüßt mich sehr herzlich, fast überschwenglich, deutet mir, mein Fahrrad mitzunehmen und führt mich dann zu einem Hintereingang. Wir gehen durch eine menschenleere Halle, die offensichtlich die Flaschenbfüllung und Verpackung beherbergt und gelangen dann zu einem Büro mit kleinen Verkaufsraum. An der Wand ein großes Foto der aktuellen Nonino-Generationen, in einer Glastür ein aufwendiger, ungewöhnlicher Stammbaum eingearbeitet. Man legt offensichtlich Wert auf Tradition. Auf dem einzigen Tisch circa zwanzig Flaschen Hochprozentiges auf zwei Tabletts, dazu noch etliche in zwei Schränken. Alles recht kultiviert.
Die Tigerlady, offensichtlich sehr guter Laune, spricht nur italienisch (einzige Ausnahme später), gibt mir zu verstehen, dass heute eigentlich tutto chiuso ist, sie das Büro hütet, sich mit den Getränken nicht so gut auskennt aber mir dennoch behilflich sein möchte. Ist mehr als ich erwartet habe und ich weiß, was ich will. “Picolit” sage ich. Sie antwortet: “Ahh, Picoliiit!” holt eine Flasche, schenkt ein, hält das Glas in Luft und ruft ihren kompletten englischen Sprachschatz ab: “The King!”. Wir verstehen uns. Das Glas ungewöhnlich voll, mehr als man in jeder Kneipe bekommt, wenn man eine Doppelten bestellt. Während ich mich darüber her mache, rennt sie davon und kommt kurz drauf mit einer Packung Schokoladenkugeln wieder. Außen Lindt, innen Nonino, entnehme ich ihrem Wortschwall und sie macht mir auch gleich vor, wie man sie essen muss. Bloß nicht reinbeißen, sondern komplett vertilgen, sonst gibt’s Sauerei. Die Dinger sind aber wirklich gut, und während ich mir noch Gedanken mache, warum sie die jetzt auftischt, holt sie schon die nächste Flasche und schenkt ordentlich ein. Sie reicht mir das Glas, umklammert den schmalen Hals der Flasche mit ihrer Hand, stößt mit dem Bauch der Flasche mit meinem Glas an und ruft sowas wie “Prost!”. Einen Augenblick befürchte ich, dass sie nun einen ordentlichen Schluck aus der Pulle nehmen wird, was aber nicht passiert. Dann hoffe ich, dass es hier keine Überwachungskamera gibt, denn wenn Nonino der V. dieses Bild zu Gesicht bekäme, könnte die gute Frau glatt ihren Job los sein. Nun reicht sie mir einen Prospekt des Hauses. Was ich nicht wußte, ist, dass Nonino Grappa aus verschiedenen Trauben herstellt, eben nicht nur aus der Picolit-Traube, sondern auch aus Fragolino, Müller-Thurgau, Sauvignon Blanc und etlichen anderen. Und die muss ich jetzt alle nacheinander probieren. Widerstand zwecklos. Um rauszufinden, wer mir dass hier antut, erkundige ich mich nach ihrem Namen. Sie heißt Giannoletta, oder so ähnlich. Als die Test-Reihe durch ist, will ich die günstige Situation nutzen. Ich entscheide mich für die Picolit-Version und bedeute G., dass ich eine Flasche nehme. Sie läuft ins Lager, kommt mit einem Karton wieder und sagt, dass sie nun ihre Tochter anrufen muss, die die weitere Abwicklung mit mir in Englisch besprechen soll. Die Tochter heißt Elisabetta. Sie macht sich Sorgen, dass ich mit dem Fahrrad unterwegs bin. Die Nonino- Flaschen seien mundgeblasen und deutlich zerbrechlicher als normale Flaschen. Erst als ich ihr den sicheren Transport zusichere, kommt sie zu den Zahlungsmodalitäten. Heute sei ja “alles zu”, auch die Kasse, und Mutter könne sowieso nicht mit dem Kreditkartenlesegerät umgehen. Wir vereinbaren Barzahlung. Dann fragt sie mich, ob ich auch alten, lang gelagerten Grappa mag. Ich bejahe wahrheitsgemäß. Sofort instruiert sie ihre Mutter und die schenkt gleich wieder ordentlich ein. Ich habe mittlerweile sechs oder sieben Schnäpse intus und kann unmöglich noch so eine Testreihe durchstehen. Nach nur zwei Gläschen entscheide ich mich für eine Flasche alten Picolit. G. verschwindet wieder im Lager, diesmal dauert es ungewöhnlich lange. Endlich habe ich etwas Zeit. Ich mache mich über Lindt mit Nonino und die Broschüre her. Zu meinem Entsetzen muß ich nun feststellen, dass alles, was ich bisher getrunken habe, aus Trester hergestellt wurde! Trester aus Picolit, Trester aus Schioppettino, Trester aus Ribolla Gialla, Trester aus Savignon Blanc, und so weiter, und so fort. Möglicherweise ist Grappa ein geschützter Begriff und wird immer aus Trester hergestellt. Das was ich suche, heißt hier jedenfalls gar nicht Grappa, sondern “Ùe Nonino Cru Monovitigno”. Ùe ist friulisch und heißt Traube, Monovitigno bedeutet, dass sie jeweils nur eine Traubensorte zum Brennen verwenden. Man ahnt es schon, es gibt ein halbes dutzend Trauben zur Auswahl. Als Giannoletta wieder erscheint, erkläre ich ihr mit letzter Kraft “Ganze Zeit falsch getrunken.” Sie versteht logischerweise nichts, also füge ich hilfesuchend hinzu: “Elisabetta anrufen.” Gesagt, getan. Als erstes frage ich E., ob sie sich mit den zur Wahl stehenden Getränken auskennt. Klar doch, sie arbeitet auch bei Nonino. Das beruhigt. Ich vermute sogar, sie ist hier die Verkaufskanone, denn zum Beweis ihrer Kenntnisse erzählt sie mir, dass bei der letzten Wahl der weltweit besten Spirituosen Nonino auf Platz fünf kam und unter den ersten fünfzig nur ein einziger Grappa war, natürlich von ihnen. Mir gefällt, wie begeistert Mutter und Tochter von den Produkten ihrer Firma sind, sei es nun Schnaps oder Schokolade. Ich erkläre E., was ich suche. “Ausgezeichnete Wahl”, ruft sie in den Hörer, sie haben den Ùe allerdings nicht aus der Picolit-Traube. Gibt’s nur in extrem geringen Mengen, jeweils in einer Jahresedition, mit hochwertiger, jedes Jahr von einem anderen berühmten Künstler gestalteten Flasche, immer sofort ausverkauft, bestimmte Jahrgänge werden bereits bei Sotheby’s zu Mondpreisen versteigert. Aber die anderen Trauben seien auch ganz hervorragend. Ich gebe ihr zu verstehen, dass Mutti mich bereits komplett abgefüllt hat und bitte sie, mir der Einfachheit und der Verkehrssicherheit halber einen Traubenbrand zu empfehlen. “Unmöglich”, sagt sie, alle haben ihren eigenen Charakter und den muss ich selbst probieren. “Ich möchte ein schönen weichen”, versuche ich es. “Weich sind sie alle”, kommt es zurück. Zweiter Versuch. “Welche Traube ist typisch für die Region?” Hier gibt es nur eine Antwort:”Fragolino”. Treffer! Sie möge doch ihrer Mutter erklären, mir davon ein Fläschchen ohne weitere Degustation zu verkaufen. Es entwickelt sich ein erstaunlich langes, temperamentvolles Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Nachdem G. aufgelegt hat, geht sie zum Schrank, holt das Getränk der Wahl und füllt ein Glas in gewohnter Manier. Nach dem Motto “hier wird nichts gekauft, was nicht vorher auch getrunken wurde”, ergebe ich mich zum letzten Mal meinem Schicksal. Die weitere Abwicklung ist dann schnell erledigt, die Verabschiedung herzlich. Ich bin froh, dass Mutti mich nicht in die Backen kneift. Jetzt möchte ich nur noch wieder hinter das Tor und durchatmen. Aber so leicht läßt G. mich nicht gehen. Sie besteht darauf, dass ich noch auf dem Firmengelände und unter ihrer tatkräftigen Mithilfe die Flasche sicher in einer Packtasche verstaue.

Dann endlich schließt sich das Tor lautlos hinter mir und ich bin wieder frei!

 

Charles Bronson am Bahnhof

Bad Hofgastein

7. Reisetag

314 Kilometer

Der Start war gut, das Wetter herrlich (Beweis siehe Foto) und die Strecke an der Salzach inmitten der Bergwelt eindrucksvoll. Dennoch schwebten gleich zwei Damokles-Schwerter über dieser Etappe. Zum Einen die Prophezeiung der einheimischen Campingplatzbesitzerin, die aus der Glaskugel (hier: Wetterbericht) las, dass es Mut bedeuten würde, heute mit dem Fahrrad ausgerechnet nach Obertauern zu fahren. Zum Zweiten lag das bisher steilste Stück der Reise vor mir. Und wie die Vorsehung es wollte, trafen natürlich beide Ereignisse gleichzeitig ein. Es wurde nass, es wurde kalt, es wurde steil, es wurde sehr steil. Ich fahre im ersten Gang, schwitze wie sonstwas und fluche über das ganze Gepäck. Es geht so langsam, dass ich kaum geradeaus fahren kann. In meinen Schlangenlinien hoffe ich, nicht stehen zu bleiben, denn hier könnte ich kaum wieder anfahren. Bei jeder Kreuzung wünsche ich “Lass es nicht weiter bergauf gehen, sondern einfach mal flach geradeaus”. Interessant auch, wie der Körper reagiert. Ich spüre keine Knieschmerzen mehr, alles ist ausgeblendet, Adrenalin macht’s möglich.
Als das überstanden ist, kommt die nächste Freude für den Radfahrer: der Klamm-Tunnel, 1.5 km lang, leicht bergauf, nichts zum Ausruhen, sehr schlechte Luft und extrem laut. Gegen die Lautstärke setze ich meine Geheimwaffe ein: Gegenschall. Immer wenn’s laut wird, schreie ich aus voller Kehle. Das hilft. Wirklich! Als ich aus dem Tunnel rauskomme, bin ich außer Atem, aber nicht vom Strampeln, sondern vom Schreien. Und heiser bin ich auch. Das nächste Mal versuche ich es mit Ohrstöpseln.
Nässe, Kälte, Schneeregen nun überall, so langsam ist der Akku lehr. Immerhin bin ich mit dem Fahrrad im Gasteinertal, einem Skigebiet. Das motiviert. Dennoch reicht’s mir für heute. Ich komme nach Dorfgastein, halte an einem Hotel und finde einen Zettel vor. Auf dem steht, dass die Wintersaison vorbei ist, die neue Saison erst irgendwann im Mai beginnt und dazwischen alles geschlossen ist. Einzige Ausnahmen sind das Café Eduscho (von 10:00 bis 18:00 Uhr) und das Privatquartier bei der Ösi Leni. Ich brauch beides nicht. Also warum nicht einfach zum Bahnhof und mit dem Zug ins nächste Städtchen? Der Bahnhof erweist sich als ausgestorben, kein Zug, kein Auto, scheinbar kein Mensch. Völlige Leere. Da entdecke ich eine Frau. Das einzige Lebewesen weit und breit. Gekleidet ganz in schwarz, mit schwarzem Koffer, steht sie regungslos neben dem Bahnhofseingang. Ich betrete die Eingangshalle, alle Schalter geschlossen, der Wartesaal leer. Sofort kommt mir dieses Bild aus alten Western in den Sinn: Ein verlassener Ort in der Nähe des Colorado River, sengende Hitze, kugelförmige Strohballen werden vom Wind ūber die Straße getrieben, der Bahnhof verlassen, nur eine einzige Figur mit tief ins Gesicht geschobenem Cowboyhut steht ungerūhrt in der Sonne. Es ist Charles Bronson. An der Eingangstūr hängt ein Zettel: “Kein Bahnbetrieb zwischen dem 17. April und 12. Mai.” Triefend nass laufe hin und her, die Frau bleibt völlig reglos, den Blick starr nach vorn gerichtet. Nun kann ich nicht mehr anders, ich spreche Frau Bronson an, erkundige mich, wie ihre weiteren Reisepläne sind. Sie sagt: “Geh mir aus der Sonne Fremder (just kidding)”. Na ja, sie ist auch hier gestrandet, vom Schienenersatzbus zu früh abgeladen worden und wird nun per Taxi von ihrem Hotel in Bad Hofgastein abgeholt. Angesichts der saisonal angespannten Hotelsituation, frage ich sie nach ihrem Hotel, bestelle mir blind ein Zimmer und lande so im ganz passablen Palace Hotel.
Auf Tourenradler ist man hier nicht eingerichtet. Das Fahrrad kann ich im Skikeller unterbringen.

 

Total ausgerastet

OK, man weiß das ja. Der Österreicher an sich spricht eine andere Sprache. Teebeutel und Tüten sind “Sackerl”, Mülleimer sind “Mistkübel”, es heißt nicht “die Bewerbung”, sondern “der Bewerb”, eine Stadt liegt “brav” am Fluß, usw, usf. Auch die Kaffeebezeichnungen sind eine Wissenschaft für sich: Brauner, Verlängerter, Verdrehter (kein Scheiß),… Aber heute habe ich was Neues gelernt. Fragt mich doch der Typ vom Zeltplatz beim Auschecken, ob ich “ausgerastet” sei. Noch bevor ich ihm eine passende Antwort geben kann, fährt er fort: “Na, dann kann es ja gut motiviert weitergehen.” Alles klar, ich habe verstanden!

Beim nächsten Mal, wenn ich ins Hotel gehe, werde ich mich erkundigen: “Bittschön, was kostet eine Nacht Ausrasten bei Ihnen?” Wenn ich Euch dann die Zimmerausstattung demoliere, hallo, ich habe vorher gefragt!

 

Die lange Jagd nach den perfekten Salzburger Nockerln

Salzburg

4. Reisetag

188 Kilometer

Ok, ich bin also in Salzburg. Salzburg ist die Mozartstadt. Ich aber habe eine andere Mission. Ich will zum ersten Mal im Leben diese berühmten Salzburger Nockerln (SN) probieren.
Als ich beim Campingplatz ankomme, frage ich als Erstes den jungen Typ an der Rezeption, wo man denn hier gut SN essen kann. Seine kurze Antwort: “Habe ich erst zwei- dreimal im Leben gegessen.” Wahrscheinlich will er mir damit mitteilen, dass er nicht gerade die beste Adresse für die von mir erbetene Auskunft ist. “Ich kann unmöglich nach Hause kommen, ohne die Dinger gegessen zu haben”, erwidere ich. Er gibt mir drei Adressen: das Sternbräu (sehr touristisch), den Roten Fuchs (deftige österreichische Küche) und den Zirkelwirt. Außerdem könnte ich mal im Cafe’ Bazar nachfragen, seinem Lieblingsort in Salzburg.
Am nächsten Morgen radle ich also erstmal zum Frühstück ins besagte Cafe’. Ein sehr schönes, altes österreichisches Cafe’, dass auch gut in Wien angesiedelt sein könnte. Es ist neun Uhr morgens und erstaunlich voll. Sehr gemischtes Publikum, jung und alt, Studenten und Professoren, Paare und Singles. Es gibt viele Zeitungen, das Frühstück ist ausgezeichnet. Beim Zahlen frage ich die Bedienung, ob sie auch SN haben, ich würde mit dem Gedanken spielen mittags oder abends wiederzukommen. Leider nein, aber ich könnte es im Sternbräu (sehr touristisch zum Zweiten) oder nebenan versuchen. Als sie “nebenan” sagt, nickt sie den Kopf über die Schulter und es hört sich an wie “bei der Armenspeisung”.
Jetzt gibt es erstmal das Pflichtprogramm: Mozarts Geburtshaus mit Ausstellung, die Festung Hohensalzburg, den Dom, den Mönchsberg, die Altstadt und was es sonst noch so zu sehen gibt. Mittags dann ins Sternbräu. Die touristische Hochburg entpuppt sich als ganz netter Biergarten. Ein Innenhof, der an zwei Seiten von alten Bogengängen gesäumt wird. Der Boden von schönem Kies bedeckt, mehrere große Bäume, unter denen die Tische Platz finden. Es ist keine Saison, noch ist es beschaulich. Das Publikum “international”. Die Amerikaner am Nachbartisch bestellen SN, später auch die Japaner einen Tisch weiter. Geliefert wird jeweils ein schaumiges Häufchen mit Puderzucker drauf. Sonst nichts, sieht lieblos aus. Ich beschließe, dass mein “erstes Mal” nicht hier stattfinden soll.
Bei der weiteren Stadtbesichtigung komme ich in der Fußgängerzone am Cafe’ Mozart vorbei, welches ausgiebig mi SN Werbung betreibt. Auf dem Foto sieht man zwei Häufchen mit Puderzucker, die ausgehängte Speisekarte stellt die Bedingung “Nur für zwei Personen”. Einen Augenblick überlege ich, die doppelte Portion zu vertilgen, verwerfe den Gedanken aber dann doch. Ich habe schließlich noch weitere Optionen. Ich suche die beiden anderen Campingplatz-Tipps auf. Der “Rote Fuchs” erweist sich als “Alter Fuchs”, hat aber keine SN. Den Zirkelwirt gibt es nicht mehr. Wahrscheinlich bot er keine SN an und ging deshalb pleite. Jetzt bleibt mir nur noch eins, das “nebenan”.
Dieses ist das genaue Gegenteil von der vermuteten Armenspeisung, es ist nämlich das Salzburger Sacher, eine Außenstelle des berühmten Wiener Sacher. Für mich Tourenradler vielleicht etwas zu fein, für mein Vorhaben aber optimal. Die Putzfrau (!) an der Eingangstür verrät mir, dass es SN gibt. Innen drin alles vom Feinsten. Kein Riesensaal, aber recht gediegen. An den Tischen nur alte Damen, ich senke den Altersdurchschnitt radikal. Gespielt wird Wiener Walzer. Hier bin ich richtig. Ich bestelle SN. Entsetzte Antwort der offensichtlich überraschten Kellnerin: “Wollen Sie das alleine machen?”. Jetzt bin ich überrascht. Zum einen passt dieser Satz so gar nicht in dieses Ambiente, zum anderen wollte ich die SN essen und nicht herstellen. Ich entscheide mich, mit einem einfachen “Äh, ja” zu antworten.
Sie sagt, dass sie erst in der Küche nachfragen muss, ob sie es auch für nur eine Person herstellen. Jetzt wir es interessant, denn ich lerne einiges über die Speise meiner Begierde. “Sie wird beim Essen immer mehr, das ist das Besondere. Dieser Schaum aus Eiweiß und Zucker bläht sich im Magen regelrecht auf. Das Sättigungsgefühl nimmt sehr stark zu.” SN bestehen IMMER aus drei Häufchen und werden traditionell mit Himbeerschlag (Schlag: Ösi für Schlagsahne) serviert. Das ist für Einen einfach zu viel. Als gewissenhafte Kellnerin müsse sie mich darüber aufklären. Sie verschwindet in der Küche und kommt mit der guten Nachricht zurück, dass sie extra für mich eine Einzelportion anfertigen werden. Was dann kommt, erfüllt meine Erwartungen voll und ganz: zwei schöne Häufchen, nett serviert in einer Backform auf Silbertablett mit einem großen Schälchen Himbeerschlag. Es schmeckt so gut wie es aussieht, es sättigt so sehr wie angekündigt. Danach muss ich pro Häufchen ein Schnäppschen trinken.
Mission erledigt, morgen kann ich weiterfahren.

 

Beim Italiener (noch in Bayern)

Nach dreistündiger Regenfahrt Zeit für eine Pause. Mitten im tiefsten Bayern komme ich in das kleine Dorf Dennamenweißichnicht. Es gibt eine kleine Pizzeria. Der Gastraum ist vielleicht sechs mal sechs Meter groß, hat lediglich fünf Tische und eine Theke. Wie in jeder ordentlichen heimischen Kneipe sitzt auch hier einer, der die ganze Zeit auf einem Spielautomaten rumdrückt. Nur sitzt der hier an der Theke und der Spielautomat ist ein iPad. Auf dem läuft wohl die App “Einarmiger Bandit”. Jedenfalls drehen sich die Rädchen genauso.
Der Laden ist offensichtlich ein echt italienischer Familienbetrieb, zwei Jungs in der (offenen) Küche, ein Mädel an der Theke, ein Mädel bedient. Man unterhält sich lautstark, ohne Unterbrechung, alles auf italienisch. Dabei tut sich die offensichtlich sehr temperamentvolle Kellnerin, schätzungsweise Mitte zwanzig, besonders hervor. Ist aber überhaupt nicht nervend, sondern eher interessant. Man hat das Gefühl, bei einer italienischen Familie zuhause zu sein. Das Essen ist wirklich gut.
Nach dem Espresso fragt mich die Kellnerin, wohin ich denn unterwegs sei. Ich sage ihr, dass ich nach Venedig radle. Das ist zuviel für sie. “Mamma Mia, Venezia!” stößt sie entsetzt hervor und ruft laut und aufgeregt etwas auf italienisch durch den ganzen Saal. Übersetzt hieß es vermutlich “Leute hier sitzt ein Verrückter, der mit dem Fahrrad über die Alpen nach Italien will.” Auf jeden Fall schauen sich alle Gäste um, selbst der Spieljunky! Und aus der Küche stürzt die italienische Sippe hervor, um sich diesen offensichtlich Bekloppten genauer anzusehen. Dann wird es aber sehr nett. Es entspannt sich ein Gespräch unter allen Anwesenden, wobei sich herausstellt, dass die Familie aus Udine stammt, welches ja auch auf meiner Route liegt. Der Spieler ist in einer Metzgerei beschäftigt, fährt täglich mit dem Rad zur Arbeit, kommt so auf 5000 km im Jahr und hat einige Ratschläge zu Regenfahrten für mich.
Später ärgere ich mich, dass ich die ganze Bande nicht fotografiert habe.

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