¡Buen Camino!

Santiago de Compostela

2654 km

Die alte Frau, die am offenen Fenster das Treiben auf der Straße beobachtet, sagt es, der Jogger auf der Strandpromenade, der Raucher vor der Bar, Passanten, sämtliche Mitarbeiter in Pensionen und Restaurants. Alle wünschen einen “Guten Weg”. Und so wie es gesagt wird, klingt es ganz anders als ¡Hola!, ¡Buenos días! oder ¡Buenas tardes!. Es hört sich viel herzlicher an, so als wenn jeder wüsste, welche Strapazen der Pilger schon hinter sich und welche er noch vor sich hat.
Ja, ich bin auf der vielleicht bekanntesten Pilgerroute, dem “Camino de Santiago” unterwegs und zwar auf dem ursprünglichen Weg “Camino de la costa”. Erst als im 11. Jahrhundert die islamischen Mauren weit genug nach Süden abgedrängt worden waren, wurde der heute meist begangene “Camino francés” angelegt. Er führt nicht durch die Berge und ist daher weniger anstrengend. Außerdem ist dort das Wetter besser.

Vor Castro-Urdiales treffe ich Sigi. Er steht am Straßenrand und winkt, weiss nicht, wo es weitergeht. Sein Wanderführer behauptet, hier in Kantabrien sei die Ausschilderung viel besser als im Baskenland. Alles Quatsch, er regt sich etwas auf.
Das wird mir auf meiner weiteren Fahrt noch einige Male passieren. Verzweifelte Pilger, die die Orientierung verloren haben und winkend am Wegesrand stehen. Ich kann immer helfen, denn ich habe auf meinem Handy sowohl den Track für die Wanderer, als auch meinen, der meist auf Straßen verläuft. Manchmal ist es aber auch trickreich, dann gibt es für Wanderer zwei Varianten, eine kurze weniger schöne Route die Straße entlang und eine längere durch die Natur. Entsprechendes -nur andersherum- gibt es für die Radler, schön auf der Straße oder etwas qualvoller durch die Prärie.
Und so steht Sigi etwas unentspannt vor einer dieser schwierigen Situationen, weil ein Camino-Wegweiser nach links und direkt daneben einer nach rechts zeigt. Die freundliche Omi, die es sich im Haus hinter uns im zweiten Stock im Fenster bequem gemacht und sich alles in schönster Seelenruhe angeschaut hat, wischt nur einmal mit dem Zeigefinger nach links, sagt “largo” (lang), dann nach rechts “corto” (kurz). Damit ist die Sache klar. Sigi wählt kurz, also Straße, 3 km bergauf, meine Route.
Wir gehen die halbe Stunde zusammen. Sigi ist 68 Jahre alt, hat einen deutlich sächsischen Akzent und lebt seit 1984 in Würzburg. Als höflicher Mensch sage ich, dass man ihm sein Alter aber nicht ansieht. Daraufhin er: “Ich habe mein Leben lang gesoffen und geraucht. Kann also wirklich nichts dafür. Muss an den Genen liegen.” Erwartet man jetzt so nicht gerade von einem Pilger…
Er ist den Camino francés schon mal gelaufen, war ein Spaziergang verglichen mit dem hier. Wann immer möglich, übernachtet er in einer Pilger-Herberge, schon allein aus finanziellen Gründen. Letzte Nacht war er in einem Schlafraum mit 40 Betten! Unangenehmer als die vielfältigen nächtlichen Geräusche und Gerüche ist aber, dass man penibel auf seine Sachen aufpassen muss. Manche Zeitgenossen stehen schon morgens um halb sechs auf und packen im Dunkeln ihre Sachen zusammen. Da greift man in der Enge schon mal daneben. Vorgestern war plötzlich sein Handy weg. Er hat es rechtzeitig gemerkt, ist rausgelaufen und hat seinen Schlafnachbarn gerade noch am Ausgang erwischt. Der greift in seine Tasche und holt das Telefon raus. Uups, keine böse Absicht. Reine Schusseligkeit. Den Regenschutz für seinen Rucksack, eigentlich gut in einem Netz verstaut, konnte er bei einem anderen Mal nicht mehr retten. Am besten man packt alles in seinen Schlafsack, sagt er. Na dann gute Nacht denke ich und bin für einen Moment froh, dass ich nicht massenunterkunftskompatibel bin. Dann entdeckt Sigi an einer Leitplanke einen dieser kleinen gelben Pfeile, Wegweiser, die Nicht-Pilger überhaupt nicht wahrnehmen und unsere Wege trennen sich. ¡Buen Camino!

Beim Warten auf die Fähre nach Santander komme ich mit den nächsten Pilgern ins Gespräch. Astrid, Klausi, Jana und Elfi, eine entspannte, gut gelaunte Gruppe. Auch sie sind, wie die meisten Pilger des Jakobsweges, in Irun gestartet, der Grenzstadt zu Frankreich, durch die ich ja auch gekommen bin. Sie fragen mich, ob ich auch pilgere. Ich fahre zwar den Jakobsweg, bin aber kein Pilger. „Das war ich erst auch nicht“, sagt Klausi, „jetzt aber schon.“ Ich bewundere ihre Leistung. Bei diesem Wetter durch tiefen Matsch oder entlang viel befahrener Straßen, die Berge rauf und runter. Sie meinen, mit dem Fahrrad muss das doch noch viel schwieriger sein. Das glaube ich kaum, da ich ja mehr auf der Straße fahre. Es zeigt aber, dass der gegenseitige Respekt für die erbrachte Leistung groß ist.
Sie übernachten auch in den Pilgerherbergen, haben noch keine schlechten Erfahrungen gemacht. Klausi genießt die abentlichen 3-Gänge-Menus in der Gruppe. Das hat er sich früher gar nicht vorstellen können. Überhaupt scheint das gemeinsame Erleben für alle die schönste Erfahrung zu sein. Man geht ein Stück zusammen, dann wieder allein, dann zu zweit, dann mal zu viert. Man trifft nach mehreren Tagen alte Bekannte wieder, es bilden sich Grüppchen, lösen sich wieder auf, Freundschaften entstehen. Über einen Monat oder länger geht das so. Eine tolle Erfahrung für die meisten.
Wieviel kostet eine Übernachtung in der Pilgerherberge? Sehr unterschiedlich, manchmal 10€ für den Schlafplatz, 10€ für das immer sehr reichhaltige Menu, 5€ für das Frühstück. Manchmal ist es billiger, manchmal kostet es gar nichts, sondern jeder spendet, so viel er möchte oder kann. Früher war es überall so. Nach der entspannten Fährfahrt trennen sich unsere Wege.

Einige Tage später nehme ich mal dankend die Hilfe netter Pilger in Anspruch. Nicht, dass ich mich verfahren hätte, aber ich war wohl etwas zu optimistisch. Das kleine Dorf zu idyllisch, die Bucht zu schön, da dachte ich, nehme ich doch mal den Wanderweg. Keine gute Idee. Erst war es unheimlich steil und eng, an Radeln war nicht zu denken. Dann wurde es so knöcheltief matschig, dass alle Pilger den Weg verlassen haben und auf die angrenzende hochbewachsene Wiese ausgewichen sind. Das habe ich dann auch machen müssen. Dumm nur, dass dort so manche Hindernisse lauerten, zum Beispiel unter Strom gesetzte Weidezäune und hoher Stacheldraht. Alles nicht so leicht zu überwinden für einen vollbepackten Tourenradler. Irgendwann ging dann nichts mehr. Da kamen drei hilfsbereite französische Pilger des Weges. Also die Packtaschen abgenommen und das Fahrrad alle zusammen über den Stacheldraht gehievt. Fertig.

So habe ich denn auf meiner Tour überall die Pilger als freundliche und gesellige Menschen kennengelernt. Eine schöne Zeit. Ihnen allen wünsche ich von Herzen einen

„¡Buen Camino!“

(Mit Betonung auf dem „o“.)

Was wehet so spät bei Nacht im Wind?

Gibt es mal keinen Campingplatz in der Nähe oder das Wetter ist einfach zu nass zum Zelten, suche ich mir eine feste Unterkunft. Dabei bevorzuge ich einfachste Herbergen. Ganz unten in der Übernachtungsskala sind natürlich Mehrbettzimmer, gerne in einem Hostel. Seit ich aber mal in Armenien wegen meiner (angeblich!) ausgeprägten nächtlichen Geräuschentwicklung aus einem solchen Zimmer ausquartiert wurde, meide ich mit Rücksicht auf meine Mitschlafenden diese Unterkünfte.
Seitdem ist auf meinen Solo-Radtouren ein Einzelzimmer ohne Bad das bevorzugte Nachtquartier. Ich weiß, nicht Jedermanns Sache (und daher gibt es sie ja auch kaum noch), aber der Abenteuerfaktor ist einfach am höchsten.
So auch in San Sebastian. Online buche ich ein good old fashioned Einzelzimmer, Bad auf dem Flur, beste Innenstadtlage, billig dazu. Nur finden kann ich es erst gar nicht. An der angegebenen Adresse ein schönes großes Mehrfamilienhaus, eine Plaza davor, aber kein Hinweisschild, nichts. Ich frage in einer Bar. Der nette Wirt führt mich zu dem Klingelschild des Hauses. Von den x namenlosen Klingelknöpfen hat einer ein “P” angeklebt, dort ist es. Später erfahre ich, dass hier in Spanien nie Namensschildern an den Klingeln sind. Bei einem Mehrfamilienhaus wird die Etage angegeben, sowie ob die Wohnung dort z.B. links oder rechts liegt. Man muss also immer ganz genau wissen, wo jemand wohnt, um richtig zu klingeln. Das “P” ist schon das Höchste aller Gefühle.
Die Pension ist im dritten Stock. Ich klingel und werde abgeholt von einem jungen Mann im Studentenalter. Er heißt Mikel.
Das Zimmer ist schön, sogar mit einem kleinen Balkon. Es gibt einen Gemeinschaftsraum mit Küche. Hier kann man sich, wann immer man will, mit bereitgestellten Getränken, Kaffee und Kuchen versorgen. Der Raum hat einen kleinen Vorbau, wie ein Mini-Wintergarten in luftiger Höhe. Alles in allem ein sehr schönes Ambiente.
Ich komme mit Mikel ins Gespräch, er gibt mir Tipps für San Sebastian, ich frage ihn nach Details der Pension. Sie hat nur drei Gästezimmer (zwei davon mit Bad), belegt die halbe 3. Etage diese typischen Wohnhauses. Da will ich natürlich Genaueres wissen und das wird sehr interessant. Das Haus wurde um 1900 gebaut und die Pension ist die ehemalige Wohnung seiner Großmutter, die hier gelebt hat. Hier wurde der Vater geboren und an diesem Tisch, an dem wir gerade sitzen, hat Mikel als kleiner Junge mit seiner Oma Karten gespielt. Er hat noch ein Zimmer hier, neben meinem. Wie cool ist das denn? Zuhause in der Wohnung einer alten baskischen Familie. Mikel spricht natürlich baskisch und spanisch, aber in der Familie oder mit Freunden nur baskisch. Bei Unbekannten startet er mit baskisch und schaltet um auf spanisch, wenn nötig.
Und in der Schule? Man kann wählen, ob man auf eine Schule möchte, in der auf baskisch oder spanisch unterrichtet wird. 80% sind baskisch, 20% spanisch. In jedem Fall wird auch die jeweils andere Sprache gelehrt.
Nun aber genug gelernt für heute.
Auf mich wartet noch ein weiteres Highlight. Nein, diesmal nichts Kulinarisches oder Kulturelles. Ich muss noch Wäsche waschen, tägliches Ritual des Tourenradlers. Aber heute gibt es was Besonderes, wovon ich nicht geglaubt habe, dass es mir mal vergönnt sein würde. Man kennt das von den schönsten Urlaubsfotos aus Italien, Spanien oder Südfrankreich. Frischgewaschene Wäsche trocknet in luftiger Höhe über Straßen und Gassen. Heute ist meine mal dran. Schließlich habe ich einen Balkon mit hier obligatorischen Wäscheleinen längs des Geländers. Gar nicht so leicht, die Klamotten da aufzuhängen. Erstmal sollte man schwindelfrei sein. Sich im dritten Stock über die Balkonbrüstung zu beugen ist nicht jedermanns Sache. Dann muss man eine sichere Hand haben, denn wer will schon von dort oben sein Unterhemd oder Wäscheklammern auf die Köpfe der Passanten runtersegeln sehen?
Aber alles unfallfrei abgelaufen.
Und Goethe, was sagst Du nun?

„Es ist Andis Wäsche, Menschenskind!“