Charles Bronson am Bahnhof

Bad Hofgastein

7. Reisetag

314 Kilometer

Der Start war gut, das Wetter herrlich (Beweis siehe Foto) und die Strecke an der Salzach inmitten der Bergwelt eindrucksvoll. Dennoch schwebten gleich zwei Damokles-Schwerter über dieser Etappe. Zum Einen die Prophezeiung der einheimischen Campingplatzbesitzerin, die aus der Glaskugel (hier: Wetterbericht) las, dass es Mut bedeuten würde, heute mit dem Fahrrad ausgerechnet nach Obertauern zu fahren. Zum Zweiten lag das bisher steilste Stück der Reise vor mir. Und wie die Vorsehung es wollte, trafen natürlich beide Ereignisse gleichzeitig ein. Es wurde nass, es wurde kalt, es wurde steil, es wurde sehr steil. Ich fahre im ersten Gang, schwitze wie sonstwas und fluche über das ganze Gepäck. Es geht so langsam, dass ich kaum geradeaus fahren kann. In meinen Schlangenlinien hoffe ich, nicht stehen zu bleiben, denn hier könnte ich kaum wieder anfahren. Bei jeder Kreuzung wünsche ich “Lass es nicht weiter bergauf gehen, sondern einfach mal flach geradeaus”. Interessant auch, wie der Körper reagiert. Ich spüre keine Knieschmerzen mehr, alles ist ausgeblendet, Adrenalin macht’s möglich.
Als das überstanden ist, kommt die nächste Freude für den Radfahrer: der Klamm-Tunnel, 1.5 km lang, leicht bergauf, nichts zum Ausruhen, sehr schlechte Luft und extrem laut. Gegen die Lautstärke setze ich meine Geheimwaffe ein: Gegenschall. Immer wenn’s laut wird, schreie ich aus voller Kehle. Das hilft. Wirklich! Als ich aus dem Tunnel rauskomme, bin ich außer Atem, aber nicht vom Strampeln, sondern vom Schreien. Und heiser bin ich auch. Das nächste Mal versuche ich es mit Ohrstöpseln.
Nässe, Kälte, Schneeregen nun überall, so langsam ist der Akku lehr. Immerhin bin ich mit dem Fahrrad im Gasteinertal, einem Skigebiet. Das motiviert. Dennoch reicht’s mir für heute. Ich komme nach Dorfgastein, halte an einem Hotel und finde einen Zettel vor. Auf dem steht, dass die Wintersaison vorbei ist, die neue Saison erst irgendwann im Mai beginnt und dazwischen alles geschlossen ist. Einzige Ausnahmen sind das Café Eduscho (von 10:00 bis 18:00 Uhr) und das Privatquartier bei der Ösi Leni. Ich brauch beides nicht. Also warum nicht einfach zum Bahnhof und mit dem Zug ins nächste Städtchen? Der Bahnhof erweist sich als ausgestorben, kein Zug, kein Auto, scheinbar kein Mensch. Völlige Leere. Da entdecke ich eine Frau. Das einzige Lebewesen weit und breit. Gekleidet ganz in schwarz, mit schwarzem Koffer, steht sie regungslos neben dem Bahnhofseingang. Ich betrete die Eingangshalle, alle Schalter geschlossen, der Wartesaal leer. Sofort kommt mir dieses Bild aus alten Western in den Sinn: Ein verlassener Ort in der Nähe des Colorado River, sengende Hitze, kugelförmige Strohballen werden vom Wind ūber die Straße getrieben, der Bahnhof verlassen, nur eine einzige Figur mit tief ins Gesicht geschobenem Cowboyhut steht ungerūhrt in der Sonne. Es ist Charles Bronson. An der Eingangstūr hängt ein Zettel: “Kein Bahnbetrieb zwischen dem 17. April und 12. Mai.” Triefend nass laufe hin und her, die Frau bleibt völlig reglos, den Blick starr nach vorn gerichtet. Nun kann ich nicht mehr anders, ich spreche Frau Bronson an, erkundige mich, wie ihre weiteren Reisepläne sind. Sie sagt: “Geh mir aus der Sonne Fremder (just kidding)”. Na ja, sie ist auch hier gestrandet, vom Schienenersatzbus zu früh abgeladen worden und wird nun per Taxi von ihrem Hotel in Bad Hofgastein abgeholt. Angesichts der saisonal angespannten Hotelsituation, frage ich sie nach ihrem Hotel, bestelle mir blind ein Zimmer und lande so im ganz passablen Palace Hotel.
Auf Tourenradler ist man hier nicht eingerichtet. Das Fahrrad kann ich im Skikeller unterbringen.

 

Total ausgerastet

OK, man weiß das ja. Der Österreicher an sich spricht eine andere Sprache. Teebeutel und Tüten sind “Sackerl”, Mülleimer sind “Mistkübel”, es heißt nicht “die Bewerbung”, sondern “der Bewerb”, eine Stadt liegt “brav” am Fluß, usw, usf. Auch die Kaffeebezeichnungen sind eine Wissenschaft für sich: Brauner, Verlängerter, Verdrehter (kein Scheiß),… Aber heute habe ich was Neues gelernt. Fragt mich doch der Typ vom Zeltplatz beim Auschecken, ob ich “ausgerastet” sei. Noch bevor ich ihm eine passende Antwort geben kann, fährt er fort: “Na, dann kann es ja gut motiviert weitergehen.” Alles klar, ich habe verstanden!

Beim nächsten Mal, wenn ich ins Hotel gehe, werde ich mich erkundigen: “Bittschön, was kostet eine Nacht Ausrasten bei Ihnen?” Wenn ich Euch dann die Zimmerausstattung demoliere, hallo, ich habe vorher gefragt!

 

Die lange Jagd nach den perfekten Salzburger Nockerln

Salzburg

4. Reisetag

188 Kilometer

Ok, ich bin also in Salzburg. Salzburg ist die Mozartstadt. Ich aber habe eine andere Mission. Ich will zum ersten Mal im Leben diese berühmten Salzburger Nockerln (SN) probieren.
Als ich beim Campingplatz ankomme, frage ich als Erstes den jungen Typ an der Rezeption, wo man denn hier gut SN essen kann. Seine kurze Antwort: “Habe ich erst zwei- dreimal im Leben gegessen.” Wahrscheinlich will er mir damit mitteilen, dass er nicht gerade die beste Adresse für die von mir erbetene Auskunft ist. “Ich kann unmöglich nach Hause kommen, ohne die Dinger gegessen zu haben”, erwidere ich. Er gibt mir drei Adressen: das Sternbräu (sehr touristisch), den Roten Fuchs (deftige österreichische Küche) und den Zirkelwirt. Außerdem könnte ich mal im Cafe’ Bazar nachfragen, seinem Lieblingsort in Salzburg.
Am nächsten Morgen radle ich also erstmal zum Frühstück ins besagte Cafe’. Ein sehr schönes, altes österreichisches Cafe’, dass auch gut in Wien angesiedelt sein könnte. Es ist neun Uhr morgens und erstaunlich voll. Sehr gemischtes Publikum, jung und alt, Studenten und Professoren, Paare und Singles. Es gibt viele Zeitungen, das Frühstück ist ausgezeichnet. Beim Zahlen frage ich die Bedienung, ob sie auch SN haben, ich würde mit dem Gedanken spielen mittags oder abends wiederzukommen. Leider nein, aber ich könnte es im Sternbräu (sehr touristisch zum Zweiten) oder nebenan versuchen. Als sie “nebenan” sagt, nickt sie den Kopf über die Schulter und es hört sich an wie “bei der Armenspeisung”.
Jetzt gibt es erstmal das Pflichtprogramm: Mozarts Geburtshaus mit Ausstellung, die Festung Hohensalzburg, den Dom, den Mönchsberg, die Altstadt und was es sonst noch so zu sehen gibt. Mittags dann ins Sternbräu. Die touristische Hochburg entpuppt sich als ganz netter Biergarten. Ein Innenhof, der an zwei Seiten von alten Bogengängen gesäumt wird. Der Boden von schönem Kies bedeckt, mehrere große Bäume, unter denen die Tische Platz finden. Es ist keine Saison, noch ist es beschaulich. Das Publikum “international”. Die Amerikaner am Nachbartisch bestellen SN, später auch die Japaner einen Tisch weiter. Geliefert wird jeweils ein schaumiges Häufchen mit Puderzucker drauf. Sonst nichts, sieht lieblos aus. Ich beschließe, dass mein “erstes Mal” nicht hier stattfinden soll.
Bei der weiteren Stadtbesichtigung komme ich in der Fußgängerzone am Cafe’ Mozart vorbei, welches ausgiebig mi SN Werbung betreibt. Auf dem Foto sieht man zwei Häufchen mit Puderzucker, die ausgehängte Speisekarte stellt die Bedingung “Nur für zwei Personen”. Einen Augenblick überlege ich, die doppelte Portion zu vertilgen, verwerfe den Gedanken aber dann doch. Ich habe schließlich noch weitere Optionen. Ich suche die beiden anderen Campingplatz-Tipps auf. Der “Rote Fuchs” erweist sich als “Alter Fuchs”, hat aber keine SN. Den Zirkelwirt gibt es nicht mehr. Wahrscheinlich bot er keine SN an und ging deshalb pleite. Jetzt bleibt mir nur noch eins, das “nebenan”.
Dieses ist das genaue Gegenteil von der vermuteten Armenspeisung, es ist nämlich das Salzburger Sacher, eine Außenstelle des berühmten Wiener Sacher. Für mich Tourenradler vielleicht etwas zu fein, für mein Vorhaben aber optimal. Die Putzfrau (!) an der Eingangstür verrät mir, dass es SN gibt. Innen drin alles vom Feinsten. Kein Riesensaal, aber recht gediegen. An den Tischen nur alte Damen, ich senke den Altersdurchschnitt radikal. Gespielt wird Wiener Walzer. Hier bin ich richtig. Ich bestelle SN. Entsetzte Antwort der offensichtlich überraschten Kellnerin: “Wollen Sie das alleine machen?”. Jetzt bin ich überrascht. Zum einen passt dieser Satz so gar nicht in dieses Ambiente, zum anderen wollte ich die SN essen und nicht herstellen. Ich entscheide mich, mit einem einfachen “Äh, ja” zu antworten.
Sie sagt, dass sie erst in der Küche nachfragen muss, ob sie es auch für nur eine Person herstellen. Jetzt wir es interessant, denn ich lerne einiges über die Speise meiner Begierde. “Sie wird beim Essen immer mehr, das ist das Besondere. Dieser Schaum aus Eiweiß und Zucker bläht sich im Magen regelrecht auf. Das Sättigungsgefühl nimmt sehr stark zu.” SN bestehen IMMER aus drei Häufchen und werden traditionell mit Himbeerschlag (Schlag: Ösi für Schlagsahne) serviert. Das ist für Einen einfach zu viel. Als gewissenhafte Kellnerin müsse sie mich darüber aufklären. Sie verschwindet in der Küche und kommt mit der guten Nachricht zurück, dass sie extra für mich eine Einzelportion anfertigen werden. Was dann kommt, erfüllt meine Erwartungen voll und ganz: zwei schöne Häufchen, nett serviert in einer Backform auf Silbertablett mit einem großen Schälchen Himbeerschlag. Es schmeckt so gut wie es aussieht, es sättigt so sehr wie angekündigt. Danach muss ich pro Häufchen ein Schnäppschen trinken.
Mission erledigt, morgen kann ich weiterfahren.