China nur mit Gaby

Dem erfahrenen Globetrotter wird es schon aufgefallen sein. In Sary-Tash hätte ich rechts abbiegen müssen, um nach Kashgar in China zu gelangen. Stattdessen bin ich geradeaus gefahren, ganz in den Norden von Kirgistan. Der Grund ist die leidige chinesische Visumproblematik. Im Oktober möchten Gaby und ich von Hongkong aus Südchina bereisen. Ich bräuchte daher ein “double-entry”-Visum, wenn ich bereits vorher einmal nach China einreisen würde. Das ist fast unmöglich zu bekommen. Alternativ hätten wir uns statt in Hongkong direkt in China treffen können. Dann hätte aber das 30-Tage-Visum unterwegs verlängert werden müssen. Normalerweise kein Problem, es gibt aber auch Fälle, wo Reisenden genau dies verweigert wurde. Wir gehen das Risiko nicht ein. Ich schaue mir noch etwas Kirgistan an und beende meine Radreise nicht in Xian, sondern in Bishkek. Von hier aus fliege ich dann Anfang Oktober nach Hongkong. Ein weiteres spannendes Highlight meiner Reise. Ich freue mich.

Meine Omi in Usbekistan

Buchara, Usbekistan

150. Reisetag

6788 Kilometer

Für meinen Aufenthalt in Buchara wird mir von anderen Radfahrern das Madina B&B empfohlen. Im Lonely Planet rangiert es in der Kategorie “Budget”, also billig. Eine Garantie dafür, hier viele Gleichgesinnte zu treffen.
Die Inhaberin Madina ist etwas speziell, sie hat etwas von Herbergsmutti: streng, geschäftstüchtig, aber auch sehr hilfsbereit. Sie ist noch recht jung, schwer zu schätzen, vielleicht Mitte 30. Ihre Kommandos sind kurz und knapp. Als wir ein Zimmer betreten, heißt es unmissverständlich: “Shoes off!”.
Jeder, der noch eine Nacht bleiben will, muss morgens zahlen. “This is my breakfast.”, so jedes Mal ihr Kommentar. Ihre Kundschaft sind Backpacker und Radreisende aus aller Welt, die meisten im Studentenalter. Madina hat alle und alles im Griff. Ich kann gut damit umgehen, unsere Mutter war genauso.
Es gibt nur Mehrbettzimmer und als ich ankomme, sind alle Betten belegt. Da bietet mir Madina an, gegenüber im Haus ihres Großvaters zu schlafen. Das kann ich mir natürlich nicht entgehen lassen.
Wie meist hier in Usbekistan ist der Eingang zu dem Haus völlig unscheinbar. Eine schmucklose Metalltür in einer weißen Mauer. Dahinter aber, offenbaren sich zwei große Innenhöfe. In der Mitte jeweils ein Baum, es gibt Sitzmöglichkeiten. Auf einem vielleicht 50cm hohem Plateau sitzen zwei Frauen. Die eine ist Madinas Großmutter, die andere mir unbekannt. Sie lachen freundlich und winken, als wir eintreten. Madina zeigt mir meinen Schlafplatz. Ich würde mal sagen, es ist die gute Stube des Hauses. Im Sommer eher ungenutzt, liegen am Rand vier ausrollbare Matratzen, von denen ich mir eine aussuchen darf. Auf dieser wird für mich mit Bettlaken und Bettbezug das Lager gerichtet. Hier verbringe ich die nächsten Nächte.
Omi ist eine ganz Liebe. Jedesmal wenn ich komme oder gehe lächelt sie herzlich von ihrem Podest, auf dem sich den ganzen Tag ihr Leben abspielt. Hier wird gegessen, Besuch empfangen und den ganzen Tag erzählt. Ohne Unterlass.
Aber Omi wäre nicht die Großmutter von Madina, wenn sie nicht ebenfalls etwas von einem Kontrollfreak hätte. Schalte ich mal im Zimmer das Licht an, obwohl es draußen noch hell ist, kommt sie rein, schaltet es aus und zieht die Vorhänge zur Seite. Ein anderes Mal starte ich die Klimaanlage und denke nicht daran die Fenster zu schließen. Schon steht Omi auf der Matte und sorgt für Ordnung.
Jeden Abend wird mir mein Schlafplatz neu gerichtet und wenn Omi zu Bett geht, schaut sie nochmal bei mir vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Sie selbst schläft in einem kleinen Zimmer nebenan und hat sogar ein richtiges Bett.
Wenn ich aufstehe, ist sie immer schon wach und frühstückt in Gesellschaft auf ihrem Podest.
So vergeht Tag um Tag, Jahr für Jahr, und es wäre wohl bis ans Ende aller Zeit so weitergegangen, wenn nicht plötzlich ein Ereignis diese liebgewonnene Routine jäh unterbrochen hätte. Spätabends sitze ich gemütlich mit anderen Reisenden beim Bier gegenüber im Innenhof des B&B, als plötzlich eine polnische Familie eintritt. Sie ist mit Rucksäcken unterwegs und sucht eine Bleibe. Das B&B ist immer noch voll belegt, aber die geschäftstüchtige Madina schickt niemanden fort. Sie fragt mich, ob ich wohl in ein kleineres Zimmer umziehen könnte, damit die freundlichen Polen im Salon schlafen können. Kein Problem. Als ich zu meinem Zimmer komme, steht Omi etwas verloren und verschlafen im Nachthemd in der Diele. Madina hat mir einfach kurzerhand Omis Zimmer zugeteilt und Omi ist nun obdachlos. Sie tut mir leid. Madina richtet mir mein Lager auf dem Fußboden ein.
“Wo schläft Omi?”, frage ich.
“Die kann überall schlafen.”, antwortet Madina etwas gefühllos.
Ich mache mir Sorgen und habe ein schlechtes Gewissen.
Morgens dann, sehe ich Omi zum ersten Mal mit Strickjacke.
Da schenkt sie mir ihr herzliches Lächeln, ganz wie immer.
Ich bin erleichtert.
Danke Omi!

Aserbaidschan – das hat alles mein Papi gemacht

Baku, Aserbaidschan

132. Reisetag

6179 Kilometer

“Reisen ist das beste Mittel gehen Vorurteile”.
Hier in Aserbaidschan wird diese alte Weisheit mal wieder bestätigt. Aserbaidschan? Das ist doch Reichtum durch Öl und Gas aus dem Kaspischen Meer für wenige und Armut für viele, ganz besonders für die Landbevölkerung. Diese wird demzufolge als entsprechend übel gelaunt und unfreundlich erwartet. Dazu müssen die bedauernswerten Menschen noch in einem Land leben, dass nur aus Steppe und Wüste besteht. Ich musste, nein, ich durfte umdenken.
Der große Unterschied zu allen Länder, die ich bisher bereist habe, ist, dass dieser Staat augenscheinlich Geld hat. Wo ist das schon der Fall? In Deutschland jedenfalls nicht! Hier sind die Straßen in gutem Zustand, die Städte sauber, die Parks und öffentlichen Anlagen perfekt gepflegt. Auf meiner Fahrt durch die Dörfer fallen mir die außergewöhnlich vielen, modernen Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser auf. Sehr erstaunlich. Zudem sieht man kaum ärmliche Behausungen, wie sie im Kaukasus viel anzutreffen sind. Es sieht so aus, als wenn es ein staatliches Programm zum Bau neuer Häuser auf dem Land gibt, denn es existieren zwei Standard-Bauten, ein- und zweistöckig. Alle habe die gleiche Farbe, eine Veranda und Flügelfenster. Die Leute bauen die Häuser selber. Sehr interessant.

Die größte Überraschung in Aserbaidschan aber sind die Menschen. Freundliche Menschen habe ich bisher überall getroffen, aber hier werde ich überall überschwänglich, fast enthusiastisch empfangen. Kinder begleiten mich auf ihren Rädern durch die Dörfer, Erwachsene rufen in einer Tour “Welcome!”, winken hupen, schenken mir Wasser, Brot, Früchte. Es ist schier überwältigend.

Unerwartet auch die Landschaft. Ich wähle die nördliche, weil schönere Route von Georgien nach Baku. Sie führt entlang des Großen Kaukasus durch wunderschöne, grüne Landschaften mit kilometerlangen Alleen und sehr guten Einkehrmöglichkeiten. Herrlich. Die letzten 100km dann die erwartete Steppe und Wüste. Und auch hier sind die staatlichen Programme offensichtlich. Im großen Stil wird versucht, die Landschaften zu begrünen. Riesige Gebiete entlang der Straßen werden mit Bäumen und Sträuchern versehen, viele Menschen arbeiten hier.

In Baku allerdings, findet man dann alle Klischees eines reichen Ölstaates bestätigt. Prestigegebäude, Prestigeautos, alles teuer, alles groß. Nicht meine Welt. Die Altstadt allerdings ist noch sehr ursprünglich. Sie hat das Glück, ein UNESCO Weltkulturerbe zu sein.

Sehr lächerlich dagegen ist der dümmliche Personenkult, der um den ehemaligen Präsidenten und Vater des jetzigen Präsidentchens gemacht wird. Der Sohnemann muss mächtig stolz auf seinen Papi sein, denn in jedem Ort, und auch dazwischen, hängen riesige Plakate und stehen große Statuen vom Papa. So wird schon dadurch für jedermann offensichtlich, dass es in diesem Staat keine lupenreine Demokratie gibt.

Und dass es einem Staat eher nicht zuträglich ist, wenn das Söhnchen in die Fußstapfen von Papi-Präsident tritt, wissen wir ja alle spätestens seit George W. B…. !

Großer Kaukasus oder Touristen – was ist eigentlich das größere Abenteuer?

Tiflis, Georgien

132. Reisetag

5590 Kilometer

Sie sind perfekt ausgestattet, haben die kompletten High-Tech-Ausrüstungen, kennen das Zwiebel-Prinzip, sind absolut hochgebirgstauglich, kommen mit Sitzkissen, Desinfektionsmittel, Wanderstöcken und Regenschirm! Sie kennen die Welt, waren schon überall, kein Zipfel der Erde ist ihnen fremd. Nepal, Indien, Mongolei, Kirgistan, Bolivien, Marokko, Kilimandscharo? Alles schon gesehen.
Ich bin mit Touristen unterwegs.

Aber von vorne.

Ich habe etwas Zeit geschenkt bekommen. Die Zeit, die ich eigentlich im Iran verbringen wollte, für den ich aber wegen der Präsidentschaftswahlen kein Visum erhalten habe. Was liegt also näher, als den Großen Kaukasus etwas zu erkunden? Schließlich gibt es hier noch völlig abgelegene, nicht erschlossene Bergwelten. Ich entscheide mich für eine Trekkingtour, ohne Fahrrad, aber mit Gruppe. Im Internet finde ich Hauser Exkursionen, offensichtlich ein Veranstalter, der in der ganzen Welt derartige Touren anbietet. Nach der Buchung erhalte ich die Reiseunterlagen. Dort wird genauestens beschrieben, was geboten wird, was man einpacken und sogar wieviel Trinkgeld man geben soll. Dass auch ja jeder Bescheid weiss. Beim Essen heißt es meistens FMA, es ist also für alles gesorgt. Einen Versuch ist es wert.

Beim ersten Treffen mit der Gruppe berichten sie mir, wo sie bereits überall waren, und vor allem, welche Katastrophen sie schon durchleben mussten. Eine eindeutige Leidenshäufung findet sich hier bei der Versorgung mit Essen und Trinken. Immer wieder gerne: der Hubschrauber kam nicht oder konnte nicht landen. Die schlimmste Geschichte von allen wird mir emotionsgeladen von G1 aus Düsseldorf aufgetischt.
Liebe Kinder, jetzt bitte nicht weiterlesen!
Es war in Nepal. Wieder mal konnte H. nicht landen. Teile der Lebensmittel verdarben. Die begleitenden einheimischen Köche konnten zwar die Versorgung sicherstellen, aber es gab 18 Tage lang kein Fleisch.
Das muss man sich mal vorstellen!
18 Tage lang!
Kein Fleisch!
Mir gefror das Blut in den Adern.
Im Hauser-Prospekt würde lapidar stehen: FMA o.F. (18 T)

Ich mache mir Sorgen wegen meiner Ausrüstung. Schließlich bin ich auf eine solche Exkursion nicht vorbereitet. Nur ein Paar Universalschuhe, wird das reichen? Der Reiseleiter fragt mich, ob ich schon mal an einer Trekkingtour teilgenommen hätte.
“Nö, kann ja nicht so schwer sein.”
Besorgt runzelt er die Stirn.
Verdammt!

Dann geht es los. Besichtigung der interessanten Höhlen und Klosteranlage Davit Gareja. Spektakulär auf einer Höhe an der Grenze von Georgien und Aserbaidschan gelegen, sehenswert. Das Gepäck im Bus, man trägt nur , sofern vorhanden, seinen Tagesrucksack mit Wasser, Fotoapparat und was man sonst so für zwei Stunden benötigt. Höflich fragt der Reiseleiter, ob er jemandem den Rucksack abnehmen soll. Sofort meldet sich G2 aus B. Und ich dachte immer, Sportler tragen ihre Sachen selbst. Erste Zweifel.

Dann folgt ein echtes Highlight der Tour. Wir fahren mit vierradgetriebenen Autos in die Berge nach Tuschetien. Anschließend wandern wir fünf Tage durch unberührte Natur. Wir zelten wild. Keinerlei Zivilisationsgeräusche, kein Motor, kein Handy, nicht mal Kondensstreifen am Himmel. Hätte nicht gedacht, dass es das auf unserem Planeten überhaupt noch irgendwo gibt. Unser Gepäck wird von Pferden getragen. Das Wetter ist wechselhaft. Ich mag das, so ist die Natur. Für die Touris ist es ein Problem. Andauernd ziehen sie sich an und aus. Mal ist es zu warm, mal zu kalt. Sobald Regentropfen fallen, ziehen sie ihre Regenklamotten an, um sie kurz danach wieder auszuziehen. Wenn wir Pause machen, holen alle ihre Sitzkissen raus. Bloß nicht die Komfortzone verlassen. Dann die ersten Flussquerungen. Das Gepäck ist auf den Pferden verstaut und die müssen nun durchs Wasser. Jetzt kommt eine weitere Eigenschaft meiner Mitreisenden zum Vorschein. Sie machen sich ständig Sorgen. Kommt das Gepäck heile rüber, wird es auch nicht nass? Natürlich wird es nass, denn die riesigen vollgepackten Hauser-Reklame-Taschen (z.T. mit Rollen!), mit denen die meisten unterwegs sind, sind leider nicht wasserdicht. Warum eigentlich nicht, fragt man sich.
Nach Tuschetien geht es in die zweite Wanderregion unserer Tour, nämlich nach Kazbegi. Hier wird nicht viel gewandert. Wir fahren lange Strecken mit Geländewagen und mit dem Bus. Nun zeigt sich eine weitere interessante Vorliebe von Touristen. Sie lieben es, Trinkgelder zu verteilen. Jeder, der auch nur die kleinste Handreichung für sie übernommen hat, wird bedacht. Ganz oben auf der Trinkgeldliste stehen Bus- und Jeepfahrer, Pferdeführer und Reiseleiter. Dabei ist ulkigerweise nicht ausschlaggebend, ob der Bedachte eine gute Leistung erbracht hat. Der Busfahrer, der früh nach Hause wollte und uns dadurch um eine Sehenswürdigkeit gebracht hat, wird genauso üppig mit Trinkgeld versorgt, wie die Trekkingführer, die unseren Müll entgegen ihrer Zusage, nicht wieder mit zurück nach Tiflis nahmen, sondern einfach auf wilden Müllhaufen in den Bergen entsorgten. Meine Einwände, dass Trinkgeld kein Ersatz für Lohn, sondern Anerkennung für eine gute, um nicht zu sagen außergewöhnlich gute Leistung ist, stoßen auf taube Ohren. Und wenn sie nicht wissen, wieviel Trinkgeld angemessen ist, schauen sie in den Reiseunterlagen von Hauser nach. Dort steht, man soll mit 80 Euro Trinkgeld rechnen. Dann kalkulieren sie, dass wir zu zwölft sind und somit insgesamt 960 Euro Trinkgeld unter die Leute muss. Und das in Georgien!

Unsere dritte Etappe führt uns ins schöne Swanetien in West-Georgien. Wir übernachten in sehr einfachen Unterkünften bei ganz lieben Familien, in kleinen Gasthäusern und zweimal im Zelt. Die Gegend ist toll, das Wetter wechselhaft. Zum Schluss regnet es auch mal richtig. Das mögen sie überhaupt nicht. Regen im Urlaub. Die Stimmung sinkt auf den Nullpunkt. Am letzten Tag will die Hälfte der Gruppe gar nicht mehr laufen, sondern lässt sich per Bus chauffieren. Wozu haben sie eigentlich die tollen Regenklamotten, frage ich mich. Und hallo, wir sind hier in den Bergen, im Großen Kaukasus und nicht auf Gran Canaria. Die Stimmung ist nicht mehr zu retten. Gut, dass jetzt noch ein Tag Sightseeing und Relaxen in Batumi ansteht, bevor es zurück nach Tiflis geht.

Dort verabschiede ich mich nachts im Hotel von meiner Trekkinggruppe.
Sie fliegen zurück nach München
Ob sie wohl, wie viele Touristen, bei der Landung klatschen werden?
Nein, bestimmt nicht.
Sie sind welterfahren, das ist ihnen zu billig.
Sie geben dem Piloten Trinkgeld!

Gyumri – wenn die Zeit einfach stehen bleibt

Gyumri, Armenien

110. Reisetag

5441 Kilometer

Es ist der 7. Dezember 1988. Der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow weilt zum lange erwarteten Besuch bei US-Präsident Ronald Reagan in Washington. Da passiert irgendwo der riesigen UDSSR ein verhängnisvolles Erdbeben. Das Ausmaß ist derart gewaltig, dass Michail Gorbatschow seinen Besuch in den USA abbricht. Auch die Treffen mit der Königin von England sowie Fidel Castro werden abgesagt. Es stellt sich heraus, dass es sich möglicherweise um das schlimmste Erdbeben seit Bestehen der Sowjetunion handelt. Es werden 100.000 Opfer vermutet. In der Region herrscht strenger Winter, was die Lage zusätzlich verschärft. Auf Grund der Schwere des Erdbebens entschließt sich die Sowjetunion zum ersten Mal ausländische Hilfe in das bis dahin völlig abgeriegelte Land zu lassen. In Deutschland gibt es Spendenaufrufe, die Hilfsbereitschaft ist groß.

Auf meiner Tour durch Armenien besuche ich auch Gyumri, die zweitgrößte Stadt des Landes. Einheimische haben mir gesagt: “Man war nicht in Armenien, wenn man Gyumri nicht gesehen hat.” Als ich dort eintreffe, bemerke ich plötzlich: Mensch, das Erdbeben passierte ja hier, genau hier! Mir wird ganz mulmig zumute. Gyumri hieß damals Leninakan und wurde durch das Erdbeben am schlimmsten verwüstet. Hier waren die meisten Opfer zu beklagen.

Ich entschließe mich, zum erstem Mal während meiner Reise, die nächsten zwei Nächte in einem Homestay zu verbringen. Wieder einmal habe ich Glück, denn ich lande bei den großartigen Gastgebern Artush und Raisa. Ihre zwei Kinder sind beide über zwanzig und leben mittlerweile in Eriwan und Moskau. Artush ist 58 Jahre alt. Er hat das Erdbeben hier in seinem Haus erlebt und erzählt mir, was damals passierte. Es war vormittags, als sich der Boden urplötzlich ruckartig um einen Meter hob, um dann auf diesem Niveau auf und ab zu schwanken. Anschließend fiel der Boden wieder schlagartig auf sein ursprüngliches Niveau zurück und begann dort heftig zu vibrieren. Das ganze Beben dauerte nur etwa eine Minute. Die Auswirkungen in der Stadt waren verheerend. Alle mehrstöckigen Gebäude wurden zerstört, es waren tausende. Darunter viele Schulen und Kindergärten, die vormittags natürlich voll besetzt waren. Für viele Familien eine Tragödie unermesslichen Ausmaßes. Artushs und Raisas Haus hatte glücklicherweise kaum Schäden. Es ist komplett aus Beton gebaut und einstöckig.

Wie haben die beiden die anschließende internationale Hilfe erlebt? Sehr interessant, dies mal “von der anderen Seite” zu hören. Bis zu diesem Zeitpunkt glaubten Raisa und Artush, wie fast alle hier, dass die Sowjetunion weltweit die Nr. 1 sei. Kein Wunder, denn bei den vielleicht größten Medienereignissen, den Olympischen Spielen, heimste die UDSSR stets die meisten Goldmedaillen ein und landete unangefochten auf Platz 1. Zudem hatten sie den ersten Menschen in den Weltraum geschickt, ein auch medial ausgiebig gefeierter Erfolg. Und so suggerierten die staatlichen Medien den Menschen, dass die Sowjetunion auch auf allen anderen Gebieten, sei es Technologie, Industrie, Wissenschaft, Medizin oder Infrastruktur, führend sei. Im Gegensatz zur DDR oder einigen Ostblockstaaten, in denen zum Teil (verbotenerweise) Westmedien empfangen werden konnten, gab es hier kaum andere Informationsquellen.

Und dann flogen aus aller Herren Länder die internationalen Hilfsorganisationen ein, auch aus fast jedem europäischen Land. Die Deutschen, Italiener, Franzosen, Schweden usw. brachten neuestes Equipment mit und leisteten nicht nur humanitäre Hilfe, sie bauten auch die Infrastruktur wieder auf, errichteten Schulen, Krankenhäuser, andere öffentliche Gebäude. Und plötzlich erkannten Artush und Raisa: wir sind ja gar nicht die Ersten, wir sind die Letzten. Man hat uns jahrzehntelang belogen. Was für ein Schock! Selten habe ich Geschichte so hautnah erlebt.

Nun ist es an der Zeit, sich die Stadt anzusehen. Mich interessiert vor allem die Altstadt. Sie stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist fast vollständig im Original “erhalten”. Erhalten im Zustand des 7.12.1988. Da ist hier die Zeit stehen geblieben und die Altstadt versank im Dornröschenschlaf. Durch das Erdbeben wurden viele Häuser so stark beschädigt, dass sie nicht mehr bewohnt werden konnten. Das Geld zur Restaurierung fehlte. Abgerissen wurde glücklicherweise nichts, die Altstadt steht auf irgendeiner UNESCO-Liste. Und so kann man durch die Straßen wandern und fühlt sich in die Sowjetunion des Jahres 1988 zurück versetzt. Eine spannende und unerwartete Zeitreise.

Am nächsten Tag heißt es dann Abschied nehmen von meinen Gastgebern. Zuvor präsentiert mir Artush aber noch einen Anbau, in dem er in kompletter Eigenarbeit drei Gästezimmer einrichtet, um in Zukunft ein gemütliches B&B anbieten zu können. Außerdem werde ich durch den schönen Rosen- und großen Nutzgarten geführt. Erstaunlich, was sie hier alles anbauen.
Schließlich offenbart mir Artush noch, dass er ausgebildeter Musiker ist und auch selbst komponiert. Das will ich mir natürlich anhören, und so bekomme ich ein kleines Privatkonzert. Zum Schluss singen mir Artush und Raisa sogar ein altes armenisches Volkslied vor. Dann ist es aber endgültig Zeit weiter zu fahren und schweren Herzens verabschiede ich mich von diesen beiden so sympathischen und liebenswerten Menschen.

Hier kann man sich das armenische Volkslied anhören. Die Dateigröße beträgt ca. 33 MByte.

Ein Visum für China beantragen – ganz großer Sport

Eriwan, Armenien

113. Reisetag

5590 Kilometer

 

Ich dachte doch wahrhaftig, es sei eine gute Idee, während meines Aufenthaltes in Eriwan mal so nebenbei ein Visum für China zu beantragen. Weil mir klar war, dass die Visabestimmungen letztens verschärft worden waren, kam ich gut vorbereitet. Im Gepäck hatte ich

– einen Visumantrag ( 4 Seiten )
– einen Zusatz zum Visumantrag für Ausländer ( 2 Seiten )
– Bescheinigung einer Auslandskrankenversicherung ( 1 Seite )
– Bescheinigung des Arbeitgebers ( 1 Seite )
– Reiseplan ( 1 Seite )
– Flugbuchung ( 1 Seite )
– Hotelbuchungen ( 2 Seiten )

Am Freitag, dem Tag nach meiner Ankunft in Eriwan, stehe ich bei der chinesischen Botschaft auf der Matte. Schließlich hat sie werktäglich von 10 bis 12 Uhr geöffnet. Ergebnis: heute keine Visaanträge, Montag wiederkommen.

Am Montag werde ich reingelassen. Der Besucherraum ähnlich einem Wartezimmer beim Arzt, circa 5 mal 6 Meter groß. Rechts eine Reihe Stühle, links ein Regal mit spannenden Berichten der letztjährigen Volkskongresse der kommunistischen Einheitspartei, in der Mitte ein Tisch, auf dem man seine Papiere sortieren kann und vor Kopf eine circa 2 Meter breite Trennscheibe mit kleinem Durchreicheschlitz für Unterlagen. Hinter der Scheibe nimmt der Konsul mit einem Mitarbeiter Platz.
Erstes Problem: man kann sich kaum verständigen, denn es gibt zwar eine Wechselsprechanlage, die funktioniert aber nicht. Also hält man sein Ohr in den Schlitz, hilft aber auch nicht viel. Als ich an der Reihe bin, schiebe ich meine Unterlagen durch den Gehörgang. Der Konsul schaut sie sich Seite für Seite genau an. Als er alle durch hat, fängt er wieder von vorne an. Das Ganze passiert gefühlte zehn Mal. Zwischendurch stellt er die ein oder andere Frage.
“Was ist das?”
“Eine Hotelbuchung.”
“Ah.”
Mich beschleicht das Gefühl, dass er Individualreisende wie mich, die zudem noch ein Visum in einem fremden Land beantragen, so lieb hat, wie Fußpilz.
Er sucht offensichtlich einen Grund, mich schnellstmöglich wieder los zu werden. Da er in den Unterlagen nichts findet, verlangt er jetzt von mir ein Schreiben der deutschen Botschaft, in dem diese alles Mögliche und Unmögliche bescheinigt, z.B. wo ich arbeite. Das ist natürlich völliger Blödsinn, denn woher soll die deutsche Vertretung in Armenien das wissen? Ich werde aber noch am gleichen Tag von unserer Botschaft mit einem schönen konsularischen Schreiben ausgestattet, in dem sie die chinesische Botschaft auch bittet, mich bei der Beantragung eines Visums zu unterstützen.

Nächster Tag: Dienstag. Ich bin direkt um 10:00 Uhr bei der chinesischen Botschaft. Allerdings lerne ich jetzt, dass der Konsul nur montags und donnerstags anwesend ist, um Visumanträge entgegen zu nehmen. Ich bitte den Angestellten, sich doch wenigstens das konsularische Schreiben anzusehen, ob es in Ordnung ist. Er liest es sich Wort für Wort durch und gibt sein ok. Die Entscheidung obliegt aber natürlich allein dem Konsul am Donnerstag.
“Wenn am Donnerstag mein Antrag akzeptiert wird, kann ich dann am darauffolgenden Montag das Visum erhalten?”
“Ja.”
Dann beginnt nämlich meine Trekkingtour in Georgien. Ich muss allerspätestens am Montag abreisen, und zwar mit meinem Pass, denn sonst komme ich nicht über die Grenze von Armenien nach Georgien.

Heute ist also Donnerstag. Heute kommt es drauf an. Wenn sie jetzt meinen Antrag nicht annehmen, habe ich verloren. Und was in den nächsten Stunden passiert, werde ich wahrscheinlich meinen Lebtag nicht vergessen.
Ich bin viertel vor zehn an der Botschaft. Diesmal sind schon zwei Damen vor mir da. Bisher war ich immer der Erste. Egal. Wir werden pünktlich eingelassen, aber der Konsul erscheint erst um halb elf. War beim letzten Mal auch so. Die beiden Mädels haben jede Menge Anträge und sonstige Angelegenheiten. Das dauert. Kurz vor elf schiebt mich der Konsul dazwischen. Er liest sich ganz langsam das Schreiben der deutschen Botschaft durch und ist offensichtlich zufrieden damit. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wenn ich jetzt aber gedacht habe, dass die Sache durch ist, bin schief gewickelt. Denn er beginnt wieder sein inzwischen bekanntes Spiel. Seite für Seite geht er die Unterlagen durch, hinten angekommen, fängt er vorne wieder an. Und beim x-ten Mal hat er dann was gefunden. Mein Flug nach China ist am 15. September von Frankfurt aus. Das geht nicht. Er kann mir ein Visum nur ausstellen, wenn ich von Eriwan fliege. Ich solle bei der Lufthansa den Flug umbuchen.
Das kann ich in einer Stunde, die mir noch bleibt, vergessen. Der Herr Konsul weiss das natürlich.
Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, diese Angelegenheit nicht mehr persönlich, sondern sportlich zu nehmen. Beim Tennis habe ich gelernt, auch in scheinbar aussichtslosen Situationen nie aufzugeben. Wie oft hat schon jemand 0:5 zurückgelegen und trotzdem den Satz noch gewonnen. Das passiert bei Profis genauso wie bei Amateuren.
Spielen wir also Tennis!
Ich werde mir einfach ein neues Ticket besorgen.
Inzwischen sind drei Mädels mit mir im Raum. Sie haben alles mitbekommen und stecken die Köpfe zusammen. Dann gucken sie eine von ihnen aus:
“She can help you!”
Ist das nicht einfach unglaublich?
Sie heißt Lucy und arbeitet in einem Reisebüro. Wir nehmen ein Taxi. Glücklicherweise ist es nicht sehr weit. Vor dem Reisebüro sind noch ein paar Treppen zu erklimmen, dann sind wir da. Drinnen sitzen zwei Damen am Computer, eine offensichtlich die Chefin. Lucy erklärt alles. Ein Ticket soll 560 Euro kosten. Nur Barzahlung, keine Kreditkarte. Gebühren, falls ich den Flug später stornieren sollte, 128 Euro. Das Geld habe ich nicht dabei. Die Geldautomaten hier spucken nur relativ geringe Beträge aus und ich weiss nicht, wie oft ich an einem Tag Geld ziehen darf. Zu zeitaufwändig, zu riskant. Dann können sie mir leider nicht helfen. Es hat keinen Zweck woanders hinzugehen, also bleibe ich sitzen. Nun schlägt die Chefin vor, eine offizielle Reservierung eines Fluges vorzunehmen, das könnte reichen. Gute Idee. Dummerweise dauert diese Prozedur quälend lange, da fast alle Daten meines Personalausweises in das System eingegeben werden müssen. Schließlich ist es geschafft, die Bestätigung wird ausgedruckt und mit Stempel und Unterschrift versehen. Dann zurück zur Botschaft. Es ist bereits nach halb zwölf. Inzwischen sind vier Damen im Warteraum, ich muss etwas warten und werde um zwanzig vor zwölf dran genommen.
Der Konsul ist nicht mehr da, ab jetzt habe ich es nur noch mit dem Mitarbeiter zu tun. Er schaut sich die Reservierung an und ist zufrieden. Wieder plumpst ein Stein. Doch dann kommt er mir mit etwas ganz Abstrusem. Er kann leider kein Original akzeptieren, ich soll ihm eine Kopie einreichen. Ich sage ihm, dass ich das Original nicht benötige, kann es mir abfotografieren und der Flug ist sowieso im Computer gespeichert.
“Nein, Kopie!”
Noch skurriler wird die Angelegenheit dadurch, dass er selbstverständlich im Büro einen Kopierer stehen hat. Der darf aber nicht verwendet werden.
Ok, ich sehe es sportlich. Er ist zum Fußball gewechselt und hat Foul gespielt. Mehr ist nicht passiert. Spielen wir also Fußball!
Es ist zwanzig vor zwölf, ich mache mich auf die Suche nach einem Kopierer. Ich laufe aus der Botschaft und nehme eine Unterquerung der viel befahrenen Straße, an der die Botschaft liegt. Und in diesem Tunnel entdecke ich wahrhaftig einen ganz kleinen Laden, in dem ein Mann neben einem Kopierer sitzt. Ich kann mein Glück kaum fassen! Für 4 Cent bekomme ich die Kopie und schon geht es zurück zur Botschaft. Das hat keine fünf Minuten gedauert.
Ich präsentiere M. die Kopie. Ja, das ist in Ordnung, aber jetzt kommt er mit dem finalen Schlag. Die Flugbuchung sei ja für September, sie muss aber noch für diesen Monat, den Juli, sein.
Ich erkläre ihm, dass mir das Visum für die Einreise ja drei Monate Zeit läßt. Ich könnte also bis Anfang Oktober einreisen, ein Flug im September reicht. Er akzeptiert es nicht. Mit einem etwas zu überlegenen Lächeln sagt er zu mir:

“THESE ARE THE RULES!”

Und so wie es sich anhört, könnte man das Gefühl haben, er sei wieder in eine andere Sportart gewechselt:

“SCHACH MATT um viertel vor zwölf.”

Im Raum nun völlige Stille. Die vier Damen, die sich angeregt unterhalten hatten, sind verstummt. Sie schauen mich mitleidig an, ziehen Schultern und Augenbrauen hoch.

War’s das?

Nicht ganz! Wenn M. die Sportart wechseln kann, dann kann ich das auch. Jetzt kommt nur noch eine Disziplin in Frage: Formel 1. Hier werden die Rennen in der Box entschieden und ich werde jetzt einen Boxenstopp im Reisebüro einlegen. Also raus aus der Botschaft, auf der Straße ein PS-Monster aus dem sowjetischen Lada-Rennstall gekidnappt, zum Reisebüro gedüst, die Treppen hochgestürmt. Die Mädels warten förmlich schon.
“Die gleiche Schei… nochmal, nur für Juli.”
Sie verstehen sofort und kennen natürlich auch die Öffungszeiten der Botschaft. Sie hauen in die Tasten, positionieren sich an Drucker und Kopierer. Meine Daten sind noch alle im Computer, die Änderung der Reservierung ist ruckzuck erledigt. Ausdrucken, Kopie nicht vergessen, fertig. Mädels, Ihr seid Spitze! Draußen wartet der Bolide mit laufendem Motor und um fünf vor zwölf bin ich wieder in der Botschaft. Beim Einlaufen stehen die vier Damen Spalier. Damit hat M. augenscheinlich nicht gerechnet.
Was kann jetzt noch passieren?
Die Unterlagen wird er kaum noch ein weiteres Mal beanstanden können. Eigentlich bleibt ihm nur noch, die Ausfertigung des Visums bis Montag in Frage zu stellen. Und genau damit kommt er mir jetzt. Er murmelt was von Bearbeitungsdauer, Abwesenheit des Konsuls und noch alles Mögliche.
Wenn da diese Scheibe nicht wäre, ich würde mich auf der Stelle als Freistil-Ringer versuchen und sämtliche Würgetechniken ausprobieren.
Aber auch jetzt ist sofort wieder Hilfe zur Stelle. Unbemerkt haben sich die vier Mädels neben mir vor der Scheibe in Position gebracht. Klar, wenn die sich mit irgendwas auskennen, dann mit der Prozedur der Visumausstellung. Fehlt nur noch, dass sie mich zur Seite schieben, nach dem Motto:
“Mach mal Platz Junge, jetzt übernehmen wir.”
Drei der Damen diskutieren mit M., eine flüstert mir Übersetzungen, Tipps und Antworten ins Ohr. Wie alles hier, ist auch diese Geschichte nicht trivial. Es gibt den normalen Service (3-5 Arbeitstage), den Express Service (2 Arbeitstage) und den Rush Service (1 Arbeitstag). Allerdings unterscheiden sich diese nicht nur durch die zu entrichtenden Gebühren, sondern unter anderem auch durch die Unterlagen, die man einreichen muss. Nicht ungefährlich.

Man einigt sich auf den Express Service bis Montag für 48 Euro, die ich bei der HSBC Bank einzahlen muss. Mit der Einzahlungsquittung soll ich dann am Montag erscheinen und das Visum abholen können.

Wer’s glaubt!
.
.
.
Heute ist Montag,
heute war ich in der Botschaft,
heute bin ich ein Engländer.

Fußball ist, wenn die Anderen gewinnen.

Wie oft schon hat England entscheidende Spiele verloren, gerne und legendär auch im Elfmeterschiessen. Schade, wo sie doch gerade für ihr fairplay so berühmt sind. Heute fühle ich mit ihnen.

Besonders verbunden bin ich in diesem Augenblick mit David Beckham. Zu seinen guten Zeiten unbestritten einer der besten Fußballer der Welt. Nach seinem Motto gefragt, antwortete er einmal:
“Never give up. Never ever!”
Jetzt verlasse ich Schulter an Schulter mit David das Spielfeld. Wir haben alles gegeben.
“David, was war eigentlich Dein schönster Erfolg?”
“Das Champions League Finale 1999 in Barcelona: Manchester gegen Bayern München.”
“Da lagt Ihr doch bis zur 90. + 1. Minute 0:1 zurück und habt doch noch gewonnen. Du hattest beide Vorlagen zum 2:1 Sieg gegeben.”
“Never give up. Never ever!”
Ich schaue auf mein China-Visum und denke:
Heute bin ich ein Engländer.

Stalin – ein lupenreiner Demokrat

Gori, Georgien

93. Reisetag

4890 Kilometer

Es gibt eine Stalinallee, einen Stalinplatz, einen Stalinpark, mehrere Stalinstatuen, wahrscheinlich auch einen Stalinkindergarten, eine Stalinschule, ein Stalinseniorenwohnheim und eben ein Stalinmuseum. Deswegen bin ich eigentlich hier, in Gori.

Stalin, einer der schlimmsten Massenmörder des letzten Jahrhunderts, wurde hier geboren. Weltweit darf man ihn inzwischen im gleichen Atemzug mit Hitler nennen. Das soll was heißen.

Eigentlich ist ganz Gori ein Museum dafür, welchen irren Personenkult die sowjetischen Kommunisten betrieben haben. Im Jahre 1930 wurde die Stadt komplett neu entworfen, nur um dem “großen” (er maß nur 1,69m) Sohn der Stadt zu huldigen. Auch die Nachbarschaft, in der er aufwuchs, wurde abgerissen. Einzig das kleine Häuschen, in dem seine Eltern ein Zimmer gemietet und Klein-Stalin die ersten vier Jahre seines verhängnisvollen Lebens verbracht hatte, durfte bleiben. Es wurde mit einem säulenbestandenen Tempel umbaut und taugt als Pilgerstätte für Stalinanbeter. Dahinter das große Museum, natürlich im prachtvollen stalinistischen Stil. Es enthält auf mehreren Etagen alles über Stalin und seinen Werdegang. Nur leider nicht die Wahrheit. Nichts über seine Verbrechen, nichts über die Deportationen, nichts über die Arbeitslager, die Vernichtung Andersdenkender. Nichts!

Und selbst das wäre nicht mal schlimm, wenn man bewusst das Museum genau so erhalten wollte, um den sowjetischen Stalinkult in seiner übelsten Form unverfälscht zu zeigen. Dies müßte man aber auch entsprechend dokumentieren und anderer Stelle über die Untaten aufklären.

Und in der Tat gab es sogar solche Bestrebungen. Im Reiseführer sind zwei mickrige Zimmerchen unterhalb der Treppe erwähnt, in denen Informationen zu den Gräueltaten zu finden sein sollen.

Zusammen mit einem holländischen Pärchen, das übrigens mit einem alten VW-Campingbus hergekommen ist, erkunde ich das Museum. Wir finden die beiden Räume nicht und so erkundigen wir uns danach. Man erklärt uns, dass sie auf Geheiss des Direktors kürzlich “destroyed” worden sind. Keine Begründung, es gibt sie einfach nicht mehr. Wir können es kaum fassen. Eigentlich hatte uns nur das interessiert. Kopfschüttelnd verlassen wir diesen gespenstigen Ort und sind uns einig:

Dies gibt eindeutig einen ganz heftigen PUNKTABZUG!


PS. Im Nationalmuseum in Tiflis wird die sowjetischen Besatzung Georgiens von 1921 bis 1991 auf einer ganzen Etage schonungslos aufgearbeitet. Hier werden auch die Opfer der Gewaltherrschaft beziffert. Es sind mehr als 800.000 Menschenleben nur in diesem kleinen Land.

Der Unfall

Kutaisi, Georgien

90. Reisetag

4730 Kilometer

Es ist 14:50 Uhr, ich fahre ganz rechts, auf oder sogar rechts neben der weißen Fahrbahnbegrenzung. Plötzlich ein dumpfer, lauter Knall und ein heftiger Stoß. Sofort denke ich: “Hier ist meine Reise zu Ende.”

Ich stürze und sehe dabei noch, wie ein Auto rotierend über die Straße in den Gegenverkehr trudelt und dann irgendwo verschwindet. Als ich auf den Schotterboden pralle, wird mir kurz schwarz vor Augen. Dann rappel ich mich, zugegeben jammernd, auf.
Das Ganze passiert vor einem Restaurant, der Schotterboden bildet den Parkplatz. Sofort stürzen Mitarbeiter und Gäste aus dem Restaurant und da ich wohl etwas verwirrt umhergelaufen sein muss, fangen mich die Leute ein und führen mich zu einem Stuhl, den sie in den Schatten gestellt haben. Auf dem Weg dorthin schaue ich auf die Straße und sehe den Verursacher nicht mehr. Komisch, dass ich sofort Unfallflucht vermute.
Als ich dann sitze, bemerke ich, wie zwei junge Frauen von der anderen Straßenseite herüber gerannt kommen. Sie waren in dem Unfallauto und kümmern sich sofort rührend um mich. Sowas habe ich noch nicht erlebt. Sie kühlen meinen Nacken, die Stirn, fühlen den Puls, sprechen mich immer wieder an, waschen die Wunden, geben mir zu trinken. Mein Kreislauf knickt ein, ich muss wohl kreidebleich gewesen sein. Sie tätscheln mir die Wangen, halten die Hand. Irgendwann geht es besser und ich frage, ob sie Krankenschwestern seien. Das ist nicht der Fall, aber das Zeug dazu hätten sie allemal. Beide heißen Natia.

Schnell ist die Polizei mit zwei Autos und vier Beamten da. Einer wird mir als der Chef vorgestellt. Die Beamten sind äußert nett und professionell. Immer wieder erkundigen sie sich nach meinem Befinden, wollen einen Krankenwagen kommen lassen, was ich aber ablehne.

Inzwischen sind auch die anderen Insassen des Autos da. Es stellt sich heraus, dass sie zu sechst im Wagen waren. Die Fahrerin mit ihrem zwanzigjährigen, behinderten Sohn, ihre 21-jährigen Tochter, der zweijährigen Enkelin, der Schwägerin Natia und der Freundin Natia, 22 Jahre alt. Schwägerin Natia erzählt mir von der Panik im Auto nach dem Aufprall. Sie dachte, dies sei das Ende. Was für ein Katastrophe hätte hier auf Georgiens Hauptverkehrsstraße M-1 passieren können. Um so bemerkenswerter finde ich, wie sie sich um mich kümmern.
Die Prozedur der Unfallaufnahme dauert ca. zwei Stunden. Zeit genug, die Schäden zu prüfen. Das Vorderrad meines Fahrrades hat ein Acht, sonst scheint es in Ordnung zu sein. Unglaublich. Der rote Packsack ist auf einer Fläche von 20cm x 20cm zerfetzt. Kann repariert werden. Die linke Gepäckträgertasche wurde aus der Verankerung gerissen und hat daher einige Schäden an der Aufhängung. Glücklicherweise können wir fast alle Teile finden, die Reparatur wird etwas schwieriger. Alles in Allem: Glück gehabt.

Als die Polizei fertig ist, bestehen die Mädels darauf, dass ich im Krankenhaus zumindest ambulant behandelt und untersucht werde. Ich willige ein.
Schön längst ist auch die nette Verwandtschaft mit einem Transporter eingetroffen. In diesen wird das Fahrrad geladen, dann geht es zum Krankenhaus. Die Fahrerin des Unfallautos, sie heißt Feride, hat sich bereits telefonisch um alles gekümmert. Arzt und Helferinnen sind sofort da. Nach der Versorgung der Wunden, Oberkörper frei machen, abhorchen und abtasten. Die beiden Natias und Feride stehen um mich rum, sprechen mit dem Arzt und drücken auch schon mal selber auf die ein oder andere Rippe bei mir, um zu sehen, ob es weh tut. Alles in Ordnung.
Dann geht es weiter zur Fahrradwerkstatt. Natürlich wissen alle schon, was passiert ist und sind sehr zuvorkommend. Das Vorderrad ist schnell gerichtet, mit der Tasche ist es aufwendiger, aber es klappt. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Nun frage ich, ob sie mich zu einem Hotel bringen könnten. Kommt ja überhaupt nicht in Frage. Ich würde selbstverständlich bei Ihnen übernachten und vorher gehen wir noch richtig schön georgisch essen. Das mit dem Essen überzeugt mich, also willige ich ein.
Zuerst geht es zu Ferides Wohnung, wir laden alles ab, machen uns frisch und fahren dann zum Restaurant. Auf dieser Fahrt sitze ich dann zum erstem Mal in dem Unfallauto mit der Unfallfahrerin am Steuer. Das ist schon ein komisches Gefühl. Gerade erst von der Straße geschossen worden und jetzt auf der Rücksitzbank. Sofort wird mir die Unfallursache bildhaft vor Augen geführt. So wie Feride fährt, würde sie beim Autoscooter auf der Kirmes Fahrverbot erhalten. Sie hat erst drei Jahre den Führerschein, fährt aber wie Michael Schumacher mit Augenbinde. Natia fragt mich, was ich von ihrem Fahrstil halte. Das muss man sich nach diesem Tag mal vorstellen! Ich antworte, sie sei zwar nett, aber das mit dem Autofahren solle sie lieber lassen. Und wie findet Natia ihren Fahrstil? “So, so.” Klingt auch nicht gerade überzeugt.
Beim Essen feiern wir den glücklichen Ausgang des Unfalls. Selten hat ein Bier so gut geschmeckt.
Zurück in der Wohnung bestehen Natia und Feride darauf, meine Klamotten zu waschen und so wird erstmal die Maschine angeworfen. Wir unterhalten uns noch eine Weile und irgendwann sinke ich dann todmüde in die Federn, obwohl sich das Schlafen wegen der Prellungen als etwas schwierig erweist.

Am nächsten Morgen möchte ich zur Polizei, um mir eine Kopie des Unfallprotokolls geben zu lassen. Natia ruft dort an, dann fahren wir los. Dort angekommen, will man uns keine Kopie geben. Wenn ich das richtig verstanden habe, muss dieses offizielle Dokument von einem Notar angefordert werden und die Erstellung dauert zehn Tage. Da haben Sie die Rechnung ohne die beiden Mädels gemacht. Unglaublich, wie die sich ins Zeug legen, obwohl sie doch nun wirklich nichts davon haben. Feride wurde als Unfallverursacherin ausgemacht und musste noch am Unfallort umgerechnet 125,–Euro Strafe bezahlen. Auf jedem Fall schaffen Sie es, dass einer der Beamten Feride eine Erklärung diktiert, die sie handschriftlich notiert und unterschreibt. Am Nachmittag sollen wir das Dokument abholen.

Die Zeit bis dahin verbringen wir mit Werkstattbesuchen. Das Auto ist nicht nur vorne rechts beschädigt, durch die Rückwärtslandung im Graben auch hinten recht erheblich.
Wenn ich unvoreingenommen die Schäden vorne und an der Seite gesehen hätte, und man hätte mir gesagt, dass sie beim Zusammenprall mit einem Radfahrer bei ca. 90 km/h entstanden sind, hätte ich nie geglaubt, dass jemand das unbeschadet überstehen kann. Der Schaden beginnt bereits vorne unterhalb des rechten Scheinwerfers, ich bin also nicht nur an der Seite gestreift worden. Der Kotflügel ist stark deformiert, wahrscheinlich durch die Gepäckträgertasche, der Rückspiegel ist abgerissen, wohl durch meinen roten Packsack, selbst hinten am Auto sind noch Schrammen. Der Zusammenprall war doch heftiger als ich gedacht hatte. Da bekomme ich noch mal weiche Knie und danke meinem Schutzengel.
Nach der Werkstatt-Tour kocht Feride ein schönes Mittagessen. Zwischendurch rufen in einer Tour Mütter, Tanten, Omas an, um sich nach dem Wohlbefinden von Andreas zu erkundigen. Feride ist von ihrer Mutter schon etwas genervt. Dann holen wir das Protokoll ab.

Für mich ist es bereits zu spät zum Weiterfahren. Die beiden Mädels müssen heute zu ihren Familien und so wird mir kurzerhand die Wohnung für die kommende Nacht überlassen, nicht ohne sich vorher zu versichern, dass es mir auch wirklich nichts ausmacht, hier alleine zu bleiben.

Ach wenn die Georgier doch nur halb so gut Autofahren könnten, wie sie nett sind!

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