Silennnnnzio

Assisi

1993 km

 

 

Er wurde hier in Assisi im Jahre 1181 oder 1182, so ganz genau weiß man das nicht, geboren und auf den Namen Giovanni getauft. Da war sein Vater, ein sehr wohlhabender Geschäftsmann, gerade in Frankreich. Als der zurück kam benannte er ihn kurzerhand in Francesco um. So ungewöhnlich begann sein Leben und es sollte auch so bleiben. Er hatte Stress mit der Kirche, weil er das Leben als besitzloser Bettler wählte und wurde doch nur zwei Jahre nach seinem frühen Tod von ihr heilig gesprochen. Der heutige Papst gehört seinem Orden an und hat seinen Namen Franziskus gewählt.

Glaube und Religion sind mir äußerst fern, aber vor solch einer Biographie habe ich höchsten Respekt. Ähnliches gilt für die sakrale Kunst. Man muss die Kirchen nicht mögen, kann aber den Künstlern, die sie damals ausstatteten, für ihre Werke große Hochachtung entgegenbringen (hab ich von Gaby!).

Jetzt quillt Italien wie vielleicht kaum ein anderes Land auf der Welt nur so über vor Kunst. Aber wenn schon der etwas alternativ angehauchte Reiseführer Lonely Planet über die Basilica in Assisi schreibt, dass sie “eines der bedeutensten Kunstwerke Italiens – einen Zyklus von 28 Fresken aus dem Leben des hl. Franziskus” birgt, dann muss man natürlich dahin. Man wird nicht enttäuscht.

Aber ich finde ja auch die kleinen Dinge des Lebens immer wieder sehr interessant. Beispiel gefällig?

In der Basilica wird großer Wert auf vollständige Ruhe gelegt. Nicht so leicht, denn das Gotteshaus ist riesig und wird von vielen Menschen besucht. Alle Teilnehmer von geführten Gruppen haben Kopfhörer auf den Ohren und werden von den Reiseführern per Funk nur im Flüsterton mit Informationen versorgt. Die stören die Ruhe also kaum. Wohl aber ab und zu andere Besucher, die sich unterhalten oder sonstwie Krach machen. Dann kommt ein diensttuender Franziskaner-Mönch zum Einsatz, der ganz im Kontrast zu dieser prachtvollen Kirche, in einer Art Bretterverschlag sitzt und über ein Mikrofon verfügt. In dieses spricht er dann mit ganz ruhiger, samtiger, fast liebevoller Stimme “Silenzio”. Man muss sich das so vorstellen, als wenn unser Papst beim Ostersegen statt urbi et orbi “Silennnnnnnzio” sagt. Ein Hörgenuss an sich.


Selbstverständlich ist es untersagt, die Fresken aus den 1290-er Jahren zu fotografieren. Sollte es doch mal vorkommen, ist sofort ein Ordner zur Stelle, der sich vor die Kamera stellt und ganz stumm eindeutige Winkbewegungen vollführt. Da mein Bus zurück nach Perugia erst spät fuhr, habe ich viel Zeit in der Basilica verbracht. Und nur ein einziges Mal habe ich gesehen, dass der Mönch seine Behausung verliess. Nachmittags hallte es plötzlich durch die Kirche: “No Photo”. Ein inzwischen wohl ermatteter Ordner hatte offensichtlich keine Lust mehr zu dem Fotografierer zu laufen um den Hampelmann zu machen. Dann nochmal: “NO PHOTO!” Nun ging der Mönch in seiner bescheidenen Kutte und mit nur einfachen Schlappen an den Füßen zu dem nervösen Rufer, um ganz ruhig und sanft auf ihn einzureden.

Und so wurde ich Zeuge, wie ein Ordner von einem Mönch zur Ordnung gerufen, nein gebeten, wurde.
Sowas vergisst man nicht!

Zum Füße küssen

Monte Sant’Angelo

1365 km

Pietro, der sympathische Inhaber der schönen Casa Duconte, empfängt mich äußerst freundlich in seinem hübschen B&B in Barletta. Das kleine Haus verfügt nur über drei Gästezimmer, schön eingerichtet und mit alten italienischen Terrazzo-Fliesen auf dem Fußboden. Zur Begrüßung gibt es selbstgebackene Kekse, man fühlt sich sofort zu Hause. In der großen Diele, in der morgens gefrühstückt wird und von der die drei Zimmer abgehen, fällt mir eine Karte mit Wanderwegen in Apulien auf. Ich frage Pietro, was es damit auf sich hat. Er wird ganz andächtig und erklärt mir, dass dies alles Pilgerrouten sind. Ob ich denn nicht wüsste, dass wir uns hier auf der Via Francigena befinden. Leider nein. Religion war nie mein Lieblingsfach, was ich dem sehr gläubigen Pietro natürlich nicht sage. Aber seitdem ich 2018 auf meiner Tour nach Lissabon auch durch Santiago de Compostela geradelt bin, hege ich eine ausgeprägte Sympathie für Pilger und da will ich nun natürlich mehr wissen.
Hier treffen mehrere Pilgerpfade zusammen. Die Via Francigena war die wohl bedeutendste Route des Abendlandes. Ausgehend von Kent in Großbritannien über Mont-Saint-Michel in Frankreich und Rom pilgerten die Gläubigen zu dem hier nahe gelegenen Monte Sant’Angelo. Dann weiter nach Brindisi, von wo aus es per Schiff über das Mittelmeer bis nach Jerusalem ging.
Monte Sant’Angelo? So wichtig, aber noch nie was von gehört!
Pietro erklärt mir, dass dort oben auf dem Berg im Jahre 492 in einer Grotte der Heilige Michael einem Hirten erschienen ist. In dieser Grotte befindet sich ein Fußabdruck des Heiligen. Ihm zu Ehren wurde genau dort eine prächtige Statue errichtet, die nun schon seit Jahrhunderten das wichtigste Pilgerziel aller Christen sei.
Nun ja, das muss ich erstmal recherchieren.
Und tatsächlich, es stellt sich heraus, dass sogar beachtlich viele Päpste und Kaiser des Mittelalters diesen Ort besucht und dort gebetet haben.
Beeindruckend auch, was der Lonely Planet Reiseführer zu berichten hat: „Otto III., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, pilgerte 999 zum Santuario di San Michele. Inbrünstig betete er hier darum, die Prophezeiung, im Jahr 1000 ginge die Welt unter, möge sich nicht erfüllen. Seine Gebete wurden erhört, der Weltuntergang fand nicht statt und der Ruhm der heiligen Stätte vergrößerte sich noch mehr.“
Als ich mich am nächsten Morgen von Pietro verabschiede, trägt er mir auf, unbedingt die Grotte zu besuchen. Es ist zwar etwas beschwerlich auf den Berg hinaufzukommen, aber das Dorf dort oben liegt wunderschön und die Grotte ist ein sehr, sehr spiritueller Ort.
Ganz leise, so dass ich ihn fast nicht verstehe, sagt er:
„Allein schon bei dem Gedanken daran, bekomme ich eine Gänsehaut.“
Und wirklich.
Er streicht sich über den Arm.
Die Haare haben sich aufgestellt!

Die nächste Nacht verbringe ich in einem ebenfalls sehr schönen B&B am Fuße des Monte Sant’Angelo. Der Inhaber zeigt mir eine Bushaltestelle, von wo ein Bus hinauf auf den Berg fahren soll. Dort warte ich am Morgen eine Stunde lang. Nichts passiert. Es kommt kein Bus.
Was nun?
Auf die Grotte verzichten und weiterradeln?
Oder mal eben in dieser Sommerhitze fast 800 Höhenmeter die Serpentinen hinauf klettern?
Ich entscheide mich, in den nächsten 24 Stunden ein Kurzzeit-Pilger zu sein. Also strampele ich auf dem Fahrrad die kräftezehrende und schweißtreibende Bergetappe hoch, kehre auf dem Gipfel in eine einfache, aber sehr schöne Pilger-Raststätte ein und nehme standesgemäß Quartier in der Casa del Pellegrino.

Noch am gleichen Nachmittag besuche ich die Grotte. Der Eingang erfolgt ebenerdig durch ein großes Doppelportal. Dahinter führt eine lange Treppe hinunter. An den Wänden viele Spuren von Pilgern, die hier vorwiegend die Umrisse ihrer Hände und Füße, oder wie der Heilige Franz von Assisi bei seinem Besuch im Jahre 1222, ein Kreuz in die Wand geritzt haben. Sehr eindrucksvoll!
Unten angekommen überrascht die schiere Größe der Grotte, die aus mehreren Räumen besteht, sowie die prachtvolle Ausstattung. Man sieht sofort, dass diese unterirdische Kirche, im Gegensatz zu den Felsenkirchen z.B. in Matera oder in Kappadokien noch weiterhin in Gebrauch ist. Die Statue des Heiligen Michael befindet sich am Ende der Grotte hinter einem Altar, beides auf einer Art Podest, das durch ein Mäuerchen abgetrennt ist. Sofort kommen mir zwei Parallelen zu der Besichtigung der Mona Lisa im Louvre in den Sinn. Genau wie das berühmte Gemälde dort ist die Statue des Heiligen Michael hier erstaunlich klein und man kann beide Kunstwerke nur aus gebührender Entfernung betrachten.
Wer nicht gerade Otto III. oder Johannes Paul II., sondern nur Andreas der irgendwievielte heißt, kommt leider nicht näher dran. Trotzdem ein beeindruckendes Erlebnis.
Es sind nur sehr wenig Besucher da, offensichtlich keine Saison, so beschließe ich morgen in aller Frühe, bevor ich weiterfahre noch einmal herzukommen.

Am nächsten Morgen bin ich zunächst ganz alleine. Ich geniesse die Stille und fühle mich urplötzlich wie ein „echter“ Pilger am Ziel seiner Reise. Da kommt eine Frau mit einem Kind, bekreuzigt sich, kniet auf einer der Bänke nieder und betet. Kurz darauf steht sie auf, geht zu dem aufsichtsführendem Mönch, spricht ihn an und fragt ihn etwas. Der schüttelt ganz ruhig und freundlich sein Haupt und verneint damit offenbar das ihm vorgetragene Anliegen. Sie trägt ihre Bitten unbeirrt fort, nun eindringlicher, emotionaler, wirft den Kopf in den Nacken, faltetet die Hände, wirft diese nach oben und unten. Der Mönch weiter ruhig den Kopf schaukelnd. Sie deutet auf das Kind und sinkt vor dem Geistlichen nieder. Dieser kann das gerade noch verhindern indem er Ihr unter die Arme greift und wieder aufrichtet. Jetzt hat er ein Einsehen, nickt und geht mit Frau und Kind zu einem kleinen Tor in dem Mäuerchen.
Interessant! Ich stehe unauffällig auf und gehe leise hinterher, um mir das nun folgende, dieser Frau äußerst selten gewährte Privileg, näher anzuschauen. Der Mönch öffnet die kleine Pforte, Frau und Kind betreten das Heiligtum.
Da bemerkt mich der Mönch, sieht meinen interessierten Blick und interpretiert diesen völlig falsch. Was ich als „Ich will nur gucken.“ aussende, kommt bei ihm offensichtlich als „Darf ich auch mit rein?“ an. Kurzerhand schiebt er mich hinter der Frau mit ins Allerheiligste und verschließt dann die Pforte.
Mir ist die Situation etwas unangenehm und ich überlege kurz, ob ich die Sache nicht aufklären soll.
Andererseits, würde ich eine Audienz beim Papst, in die ich aus Versehen geschoben würde, ablehnen?
Ganz sicher nicht!
Also bleibe ich und befinde mich in dieser äußerst ungewohnten Situation: vorne die inzwischen vor dem Erzengel Michael niederkniende und laut schluchzende Intensiv-Gläubige, hinten der gutmeinende Mönch, links der Altar, mittendrin ausgerechnet ich.
Jetzt frage ich mich, was ich machen soll, wenn die junge Mutter – hoffentlich vom Geiste Michaels beseelt – gleich wieder aufsteht. Denn dann bin ich ja an der Reihe.
Die Antwort fällt nicht schwer, denn mit größtem Vergnügen versuche ich in fremden Ländern immer das zu essen, zu trinken, zu tun, was die dort Ansässigen so machen. Hier in einer der bedeutendsten Wallfahrtsstätten der katholischen Kirche heißt das eben: niederknien und beten.
Und wofür soll ich hier und jetzt Fürbitte halten? Da ich ja nicht religiös bin, fände ich es unangebracht, etwas für mich selbst zu erbitten.
Aber auch diese Entscheidung fällt leicht.
Ich werde dafür beten, dass unsere schöne Welt zum nächsten Jahrtausendwechsel 2999/3000 nicht untergeht, und vorher auch nicht!
Erwiesenermaßen hat das genau hier ja schon einmal funktioniert, da mache ich nichts verkehrt.
Als ich dann dran bin und niederknie am Fuße der Statue, wo ich hinter einer Öffnung den sagenumwobenen Fußabdruck erblicke, sollte ich eigentlich an all die Päpste, Kaiser und Heiligen denken, die genau hier, vor mir auf eben diesem Stein niedergekniet und gebetet haben.
Stattdessen aber kommt mir der liebenswerte Pietro Duconte aus Barletta in den Sinn.
Ich fühle mit ihm.
Und … oh je … ich habe eine Gänsehaut!

Die etwas andere Grappa-Degustation

Grado

12. Reisetag

636 Kilometer

Ich nähere mich einem weiteren Höhepunkt meiner Tour. Es geht um Geld, es geht um Alkohol, es geht um eine, nein zwei italienische Familien! Ich bin in Friaul, dem Ursprungsgebiet einiger der besten Weine Italiens. Aber die interessieren mich heute nicht. Ich bin wegen des Grappas hier. “Grappa gibt’s für sowasvonwenig Geld beim Aldi”, werden einige von Euch sagen, “dafür braucht der Trottel nun wirklich nicht bis nach Italien zu strampeln.” Schon klar, aber das Zeug wird üblicherweise aus den Überresten von Weintrauben gebrannt. Alle möglichen Trester verschiedener Trauben werden zusammengekippt, der Resteverwertung zugeführt und das Ergebnis dann zur Entsorgung an Aldi, sowie an die Gastronomen ambitionierter Tennisvereine geliefert.

So wird es in ganz Italien gemacht. Ganz Italien? Nein, ein von einer unbeugsamen Familie bevölkertes Dorf leistet erbitterten Widerstand.

Hier im Örtchen Percoto befindet sich die älteste Grappabrennerei des Friaul. Seit mehr als hundert Jahren ist sie im Besitz der Familie Nonino, nunmehr in der fünften Generation. Die Noninos brennen ihren Grappa nicht aus Trester, sondern aus den ganzen Trauben einer einzigen Rebsorte. Und dazu verwenden sie nicht irgendeine, sondern Picolit. Kennen die meisten nicht, also hier noch ein wenig Klugsch… . Picolit wurde vor über 300 Jahren in Italien sehr geschätzt und zur Produktion des gleichnamigen Süßweines verwendet. Leider ist die Rebe sehr empfindlich und geriet irgendwann in Vergessenheit. Inzwischen wird Picolit wieder hergestellt. Sehr teuer, da nur in geringen Mengen und Lese nur von Hand. Und genau aus diesen Trauben brennen die Noninos ihren Grappa. Hört sich teuer an, ist auch so. Egal, heute will ich (1.) genau diesen Grappa (2.) an seiner Geburtsstätte (3.) bei den Erzeugern (4.) persönlich erstehen. Soweit die graue Theorie, in der Praxis kam mal wieder alles ganz, ganz anders…

Der Tag beginnt mit einem Schock. Denn heute ist der 25. April und das ist in Italien ein Feiertag, Festa della Liberazione. “Alles zu”, bringt es die Dame an der Hotelrezeption auf den Punkt. So schnell können große Pläne platzen. Egal, nun bin ich schon mal hier, jetzt fahr ich auch dahin. Das Dorf präsentiert sich bei der Einfahrt sehr gepflegt, links und rechts Bungalow-artige Häuser mit viel Rasen rundherum und der typischen mediterranen Nonne/Mönch Tonziegeleindeckung. Erinnert mich ein wenig an bessere Viertel in Florida. Den Leuten hier geht es augenscheinlich gut. Der Dorfkern sehr gepflegt, hübsch anzusehen, aber alles zu. Ich suche das Anwesen der Noninos. Nichts zu finden, mein Reiseführer von 2007 offensichtlich überholt. Ein Zeitungskiosk ist geöffnet, hier werde ich mich nach dem Weg erkunden. Im gleichen Augenblick hält ein dicker Mercedes neben mir und ein Herr mittleren Alters im Anzug steigt aus. Wunderbar denke ich, der kann bestimmt deutsch oder englisch. Pustekuchen, er deutet aber auf den Kioskinhaber und dieser erklärt mir dann sehr freundlich, wo es denn lang geht. Allerdings, gibt er zu bedenken, heute Feiertag, “alles zu”. Ich fahre weiter und endlich erreiche ich die Einfahrt zur Produktionsstätte der Noninos. Der Anblick sehr entmutigend. Ein circa acht Meter langes Stahltor versperrt die Einfahrt zu dem Gelände. Wie zu erwarten, völlige Stille, eben “alles zu”. Ich klingle trotzdem. Wie ebenfalls zu erwarten, passiert rein gar nichts. Was nun? In mir kommt der Ingenieur durch. Mangels Alternativen untersuche ich die Wechselsprechanlage. Funktioniert sie überhaupt? Gibt es eine Videofunktion? Ich drücke auf allen Knöpfen rum, versuche verschiedene Kombinationen. Da, lautlos und fast unbemerkt geht plötzlich das Tor auf. “Uups” schießt es mir durch den Kopf, “war ich das?”. Nichts wie rein! Nach 50 Metern komme ich zu einer Tür, die offensichtlich zu einem Büro oder Verkaufsraum führt, allerdings verschlossen. Zwischenzeitlich schließt sich das Tor hinter mir wieder. Ich bin in Hochstimmung und fühle mich wie ein Kind, dass in der Spielzeugabteilung eines Kaufhauses über Nacht eingeschlossen ist. OK, wo soll ich anfangen? Gerade will ich loslegen, da kommt eine Frau um die Ecke. Der getigerten Hose nach zu urteilen, ist sie auf keinem Fall Signora Nonino. Sie begrüßt mich sehr herzlich, fast überschwenglich, deutet mir, mein Fahrrad mitzunehmen und führt mich dann zu einem Hintereingang. Wir gehen durch eine menschenleere Halle, die offensichtlich die Flaschenbfüllung und Verpackung beherbergt und gelangen dann zu einem Büro mit kleinen Verkaufsraum. An der Wand ein großes Foto der aktuellen Nonino-Generationen, in einer Glastür ein aufwendiger, ungewöhnlicher Stammbaum eingearbeitet. Man legt offensichtlich Wert auf Tradition. Auf dem einzigen Tisch circa zwanzig Flaschen Hochprozentiges auf zwei Tabletts, dazu noch etliche in zwei Schränken. Alles recht kultiviert.
Die Tigerlady, offensichtlich sehr guter Laune, spricht nur italienisch (einzige Ausnahme später), gibt mir zu verstehen, dass heute eigentlich tutto chiuso ist, sie das Büro hütet, sich mit den Getränken nicht so gut auskennt aber mir dennoch behilflich sein möchte. Ist mehr als ich erwartet habe und ich weiß, was ich will. “Picolit” sage ich. Sie antwortet: “Ahh, Picoliiit!” holt eine Flasche, schenkt ein, hält das Glas in Luft und ruft ihren kompletten englischen Sprachschatz ab: “The King!”. Wir verstehen uns. Das Glas ungewöhnlich voll, mehr als man in jeder Kneipe bekommt, wenn man eine Doppelten bestellt. Während ich mich darüber her mache, rennt sie davon und kommt kurz drauf mit einer Packung Schokoladenkugeln wieder. Außen Lindt, innen Nonino, entnehme ich ihrem Wortschwall und sie macht mir auch gleich vor, wie man sie essen muss. Bloß nicht reinbeißen, sondern komplett vertilgen, sonst gibt’s Sauerei. Die Dinger sind aber wirklich gut, und während ich mir noch Gedanken mache, warum sie die jetzt auftischt, holt sie schon die nächste Flasche und schenkt ordentlich ein. Sie reicht mir das Glas, umklammert den schmalen Hals der Flasche mit ihrer Hand, stößt mit dem Bauch der Flasche mit meinem Glas an und ruft sowas wie “Prost!”. Einen Augenblick befürchte ich, dass sie nun einen ordentlichen Schluck aus der Pulle nehmen wird, was aber nicht passiert. Dann hoffe ich, dass es hier keine Überwachungskamera gibt, denn wenn Nonino der V. dieses Bild zu Gesicht bekäme, könnte die gute Frau glatt ihren Job los sein. Nun reicht sie mir einen Prospekt des Hauses. Was ich nicht wußte, ist, dass Nonino Grappa aus verschiedenen Trauben herstellt, eben nicht nur aus der Picolit-Traube, sondern auch aus Fragolino, Müller-Thurgau, Sauvignon Blanc und etlichen anderen. Und die muss ich jetzt alle nacheinander probieren. Widerstand zwecklos. Um rauszufinden, wer mir dass hier antut, erkundige ich mich nach ihrem Namen. Sie heißt Giannoletta, oder so ähnlich. Als die Test-Reihe durch ist, will ich die günstige Situation nutzen. Ich entscheide mich für die Picolit-Version und bedeute G., dass ich eine Flasche nehme. Sie läuft ins Lager, kommt mit einem Karton wieder und sagt, dass sie nun ihre Tochter anrufen muss, die die weitere Abwicklung mit mir in Englisch besprechen soll. Die Tochter heißt Elisabetta. Sie macht sich Sorgen, dass ich mit dem Fahrrad unterwegs bin. Die Nonino- Flaschen seien mundgeblasen und deutlich zerbrechlicher als normale Flaschen. Erst als ich ihr den sicheren Transport zusichere, kommt sie zu den Zahlungsmodalitäten. Heute sei ja “alles zu”, auch die Kasse, und Mutter könne sowieso nicht mit dem Kreditkartenlesegerät umgehen. Wir vereinbaren Barzahlung. Dann fragt sie mich, ob ich auch alten, lang gelagerten Grappa mag. Ich bejahe wahrheitsgemäß. Sofort instruiert sie ihre Mutter und die schenkt gleich wieder ordentlich ein. Ich habe mittlerweile sechs oder sieben Schnäpse intus und kann unmöglich noch so eine Testreihe durchstehen. Nach nur zwei Gläschen entscheide ich mich für eine Flasche alten Picolit. G. verschwindet wieder im Lager, diesmal dauert es ungewöhnlich lange. Endlich habe ich etwas Zeit. Ich mache mich über Lindt mit Nonino und die Broschüre her. Zu meinem Entsetzen muß ich nun feststellen, dass alles, was ich bisher getrunken habe, aus Trester hergestellt wurde! Trester aus Picolit, Trester aus Schioppettino, Trester aus Ribolla Gialla, Trester aus Savignon Blanc, und so weiter, und so fort. Möglicherweise ist Grappa ein geschützter Begriff und wird immer aus Trester hergestellt. Das was ich suche, heißt hier jedenfalls gar nicht Grappa, sondern “Ùe Nonino Cru Monovitigno”. Ùe ist friulisch und heißt Traube, Monovitigno bedeutet, dass sie jeweils nur eine Traubensorte zum Brennen verwenden. Man ahnt es schon, es gibt ein halbes dutzend Trauben zur Auswahl. Als Giannoletta wieder erscheint, erkläre ich ihr mit letzter Kraft “Ganze Zeit falsch getrunken.” Sie versteht logischerweise nichts, also füge ich hilfesuchend hinzu: “Elisabetta anrufen.” Gesagt, getan. Als erstes frage ich E., ob sie sich mit den zur Wahl stehenden Getränken auskennt. Klar doch, sie arbeitet auch bei Nonino. Das beruhigt. Ich vermute sogar, sie ist hier die Verkaufskanone, denn zum Beweis ihrer Kenntnisse erzählt sie mir, dass bei der letzten Wahl der weltweit besten Spirituosen Nonino auf Platz fünf kam und unter den ersten fünfzig nur ein einziger Grappa war, natürlich von ihnen. Mir gefällt, wie begeistert Mutter und Tochter von den Produkten ihrer Firma sind, sei es nun Schnaps oder Schokolade. Ich erkläre E., was ich suche. “Ausgezeichnete Wahl”, ruft sie in den Hörer, sie haben den Ùe allerdings nicht aus der Picolit-Traube. Gibt’s nur in extrem geringen Mengen, jeweils in einer Jahresedition, mit hochwertiger, jedes Jahr von einem anderen berühmten Künstler gestalteten Flasche, immer sofort ausverkauft, bestimmte Jahrgänge werden bereits bei Sotheby’s zu Mondpreisen versteigert. Aber die anderen Trauben seien auch ganz hervorragend. Ich gebe ihr zu verstehen, dass Mutti mich bereits komplett abgefüllt hat und bitte sie, mir der Einfachheit und der Verkehrssicherheit halber einen Traubenbrand zu empfehlen. “Unmöglich”, sagt sie, alle haben ihren eigenen Charakter und den muss ich selbst probieren. “Ich möchte ein schönen weichen”, versuche ich es. “Weich sind sie alle”, kommt es zurück. Zweiter Versuch. “Welche Traube ist typisch für die Region?” Hier gibt es nur eine Antwort:”Fragolino”. Treffer! Sie möge doch ihrer Mutter erklären, mir davon ein Fläschchen ohne weitere Degustation zu verkaufen. Es entwickelt sich ein erstaunlich langes, temperamentvolles Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Nachdem G. aufgelegt hat, geht sie zum Schrank, holt das Getränk der Wahl und füllt ein Glas in gewohnter Manier. Nach dem Motto “hier wird nichts gekauft, was nicht vorher auch getrunken wurde”, ergebe ich mich zum letzten Mal meinem Schicksal. Die weitere Abwicklung ist dann schnell erledigt, die Verabschiedung herzlich. Ich bin froh, dass Mutti mich nicht in die Backen kneift. Jetzt möchte ich nur noch wieder hinter das Tor und durchatmen. Aber so leicht läßt G. mich nicht gehen. Sie besteht darauf, dass ich noch auf dem Firmengelände und unter ihrer tatkräftigen Mithilfe die Flasche sicher in einer Packtasche verstaue.

Dann endlich schließt sich das Tor lautlos hinter mir und ich bin wieder frei!