Zum Füße küssen

Monte Sant’Angelo

1365 km

Pietro, der sympathische Inhaber der schönen Casa Duconte, empfängt mich äußerst freundlich in seinem hübschen B&B in Barletta. Das kleine Haus verfügt nur über drei Gästezimmer, schön eingerichtet und mit alten italienischen Terrazzo-Fliesen auf dem Fußboden. Zur Begrüßung gibt es selbstgebackene Kekse, man fühlt sich sofort zu Hause. In der großen Diele, in der morgens gefrühstückt wird und von der die drei Zimmer abgehen, fällt mir eine Karte mit Wanderwegen in Apulien auf. Ich frage Pietro, was es damit auf sich hat. Er wird ganz andächtig und erklärt mir, dass dies alles Pilgerrouten sind. Ob ich denn nicht wüsste, dass wir uns hier auf der Via Francigena befinden. Leider nein. Religion war nie mein Lieblingsfach, was ich dem sehr gläubigen Pietro natürlich nicht sage. Aber seitdem ich 2018 auf meiner Tour nach Lissabon auch durch Santiago de Compostela geradelt bin, hege ich eine ausgeprägte Sympathie für Pilger und da will ich nun natürlich mehr wissen.
Hier treffen mehrere Pilgerpfade zusammen. Die Via Francigena war die wohl bedeutendste Route des Abendlandes. Ausgehend von Kent in Großbritannien über Mont-Saint-Michel in Frankreich und Rom pilgerten die Gläubigen zu dem hier nahe gelegenen Monte Sant’Angelo. Dann weiter nach Brindisi, von wo aus es per Schiff über das Mittelmeer bis nach Jerusalem ging.
Monte Sant’Angelo? So wichtig, aber noch nie was von gehört!
Pietro erklärt mir, dass dort oben auf dem Berg im Jahre 492 in einer Grotte der Heilige Michael einem Hirten erschienen ist. In dieser Grotte befindet sich ein Fußabdruck des Heiligen. Ihm zu Ehren wurde genau dort eine prächtige Statue errichtet, die nun schon seit Jahrhunderten das wichtigste Pilgerziel aller Christen sei.
Nun ja, das muss ich erstmal recherchieren.
Und tatsächlich, es stellt sich heraus, dass sogar beachtlich viele Päpste und Kaiser des Mittelalters diesen Ort besucht und dort gebetet haben.
Beeindruckend auch, was der Lonely Planet Reiseführer zu berichten hat: „Otto III., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, pilgerte 999 zum Santuario di San Michele. Inbrünstig betete er hier darum, die Prophezeiung, im Jahr 1000 ginge die Welt unter, möge sich nicht erfüllen. Seine Gebete wurden erhört, der Weltuntergang fand nicht statt und der Ruhm der heiligen Stätte vergrößerte sich noch mehr.“
Als ich mich am nächsten Morgen von Pietro verabschiede, trägt er mir auf, unbedingt die Grotte zu besuchen. Es ist zwar etwas beschwerlich auf den Berg hinaufzukommen, aber das Dorf dort oben liegt wunderschön und die Grotte ist ein sehr, sehr spiritueller Ort.
Ganz leise, so dass ich ihn fast nicht verstehe, sagt er:
„Allein schon bei dem Gedanken daran, bekomme ich eine Gänsehaut.“
Und wirklich.
Er streicht sich über den Arm.
Die Haare haben sich aufgestellt!

Die nächste Nacht verbringe ich in einem ebenfalls sehr schönen B&B am Fuße des Monte Sant’Angelo. Der Inhaber zeigt mir eine Bushaltestelle, von wo ein Bus hinauf auf den Berg fahren soll. Dort warte ich am Morgen eine Stunde lang. Nichts passiert. Es kommt kein Bus.
Was nun?
Auf die Grotte verzichten und weiterradeln?
Oder mal eben in dieser Sommerhitze fast 800 Höhenmeter die Serpentinen hinauf klettern?
Ich entscheide mich, in den nächsten 24 Stunden ein Kurzzeit-Pilger zu sein. Also strampele ich auf dem Fahrrad die kräftezehrende und schweißtreibende Bergetappe hoch, kehre auf dem Gipfel in eine einfache, aber sehr schöne Pilger-Raststätte ein und nehme standesgemäß Quartier in der Casa del Pellegrino.

Noch am gleichen Nachmittag besuche ich die Grotte. Der Eingang erfolgt ebenerdig durch ein großes Doppelportal. Dahinter führt eine lange Treppe hinunter. An den Wänden viele Spuren von Pilgern, die hier vorwiegend die Umrisse ihrer Hände und Füße, oder wie der Heilige Franz von Assisi bei seinem Besuch im Jahre 1222, ein Kreuz in die Wand geritzt haben. Sehr eindrucksvoll!
Unten angekommen überrascht die schiere Größe der Grotte, die aus mehreren Räumen besteht, sowie die prachtvolle Ausstattung. Man sieht sofort, dass diese unterirdische Kirche, im Gegensatz zu den Felsenkirchen z.B. in Matera oder in Kappadokien noch weiterhin in Gebrauch ist. Die Statue des Heiligen Michael befindet sich am Ende der Grotte hinter einem Altar, beides auf einer Art Podest, das durch ein Mäuerchen abgetrennt ist. Sofort kommen mir zwei Parallelen zu der Besichtigung der Mona Lisa im Louvre in den Sinn. Genau wie das berühmte Gemälde dort ist die Statue des Heiligen Michael hier erstaunlich klein und man kann beide Kunstwerke nur aus gebührender Entfernung betrachten.
Wer nicht gerade Otto III. oder Johannes Paul II., sondern nur Andreas der irgendwievielte heißt, kommt leider nicht näher dran. Trotzdem ein beeindruckendes Erlebnis.
Es sind nur sehr wenig Besucher da, offensichtlich keine Saison, so beschließe ich morgen in aller Frühe, bevor ich weiterfahre noch einmal herzukommen.

Am nächsten Morgen bin ich zunächst ganz alleine. Ich geniesse die Stille und fühle mich urplötzlich wie ein „echter“ Pilger am Ziel seiner Reise. Da kommt eine Frau mit einem Kind, bekreuzigt sich, kniet auf einer der Bänke nieder und betet. Kurz darauf steht sie auf, geht zu dem aufsichtsführendem Mönch, spricht ihn an und fragt ihn etwas. Der schüttelt ganz ruhig und freundlich sein Haupt und verneint damit offenbar das ihm vorgetragene Anliegen. Sie trägt ihre Bitten unbeirrt fort, nun eindringlicher, emotionaler, wirft den Kopf in den Nacken, faltetet die Hände, wirft diese nach oben und unten. Der Mönch weiter ruhig den Kopf schaukelnd. Sie deutet auf das Kind und sinkt vor dem Geistlichen nieder. Dieser kann das gerade noch verhindern indem er Ihr unter die Arme greift und wieder aufrichtet. Jetzt hat er ein Einsehen, nickt und geht mit Frau und Kind zu einem kleinen Tor in dem Mäuerchen.
Interessant! Ich stehe unauffällig auf und gehe leise hinterher, um mir das nun folgende, dieser Frau äußerst selten gewährte Privileg, näher anzuschauen. Der Mönch öffnet die kleine Pforte, Frau und Kind betreten das Heiligtum.
Da bemerkt mich der Mönch, sieht meinen interessierten Blick und interpretiert diesen völlig falsch. Was ich als „Ich will nur gucken.“ aussende, kommt bei ihm offensichtlich als „Darf ich auch mit rein?“ an. Kurzerhand schiebt er mich hinter der Frau mit ins Allerheiligste und verschließt dann die Pforte.
Mir ist die Situation etwas unangenehm und ich überlege kurz, ob ich die Sache nicht aufklären soll.
Andererseits, würde ich eine Audienz beim Papst, in die ich aus Versehen geschoben würde, ablehnen?
Ganz sicher nicht!
Also bleibe ich und befinde mich in dieser äußerst ungewohnten Situation: vorne die inzwischen vor dem Erzengel Michael niederkniende und laut schluchzende Intensiv-Gläubige, hinten der gutmeinende Mönch, links der Altar, mittendrin ausgerechnet ich.
Jetzt frage ich mich, was ich machen soll, wenn die junge Mutter – hoffentlich vom Geiste Michaels beseelt – gleich wieder aufsteht. Denn dann bin ich ja an der Reihe.
Die Antwort fällt nicht schwer, denn mit größtem Vergnügen versuche ich in fremden Ländern immer das zu essen, zu trinken, zu tun, was die dort Ansässigen so machen. Hier in einer der bedeutendsten Wallfahrtsstätten der katholischen Kirche heißt das eben: niederknien und beten.
Und wofür soll ich hier und jetzt Fürbitte halten? Da ich ja nicht religiös bin, fände ich es unangebracht, etwas für mich selbst zu erbitten.
Aber auch diese Entscheidung fällt leicht.
Ich werde dafür beten, dass unsere schöne Welt zum nächsten Jahrtausendwechsel 2999/3000 nicht untergeht, und vorher auch nicht!
Erwiesenermaßen hat das genau hier ja schon einmal funktioniert, da mache ich nichts verkehrt.
Als ich dann dran bin und niederknie am Fuße der Statue, wo ich hinter einer Öffnung den sagenumwobenen Fußabdruck erblicke, sollte ich eigentlich an all die Päpste, Kaiser und Heiligen denken, die genau hier, vor mir auf eben diesem Stein niedergekniet und gebetet haben.
Stattdessen aber kommt mir der liebenswerte Pietro Duconte aus Barletta in den Sinn.
Ich fühle mit ihm.
Und … oh je … ich habe eine Gänsehaut!