Gyumri – wenn die Zeit einfach stehen bleibt

Gyumri, Armenien

110. Reisetag

5441 Kilometer

Es ist der 7. Dezember 1988. Der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow weilt zum lange erwarteten Besuch bei US-Präsident Ronald Reagan in Washington. Da passiert irgendwo der riesigen UDSSR ein verhängnisvolles Erdbeben. Das Ausmaß ist derart gewaltig, dass Michail Gorbatschow seinen Besuch in den USA abbricht. Auch die Treffen mit der Königin von England sowie Fidel Castro werden abgesagt. Es stellt sich heraus, dass es sich möglicherweise um das schlimmste Erdbeben seit Bestehen der Sowjetunion handelt. Es werden 100.000 Opfer vermutet. In der Region herrscht strenger Winter, was die Lage zusätzlich verschärft. Auf Grund der Schwere des Erdbebens entschließt sich die Sowjetunion zum ersten Mal ausländische Hilfe in das bis dahin völlig abgeriegelte Land zu lassen. In Deutschland gibt es Spendenaufrufe, die Hilfsbereitschaft ist groß.

Auf meiner Tour durch Armenien besuche ich auch Gyumri, die zweitgrößte Stadt des Landes. Einheimische haben mir gesagt: “Man war nicht in Armenien, wenn man Gyumri nicht gesehen hat.” Als ich dort eintreffe, bemerke ich plötzlich: Mensch, das Erdbeben passierte ja hier, genau hier! Mir wird ganz mulmig zumute. Gyumri hieß damals Leninakan und wurde durch das Erdbeben am schlimmsten verwüstet. Hier waren die meisten Opfer zu beklagen.

Ich entschließe mich, zum erstem Mal während meiner Reise, die nächsten zwei Nächte in einem Homestay zu verbringen. Wieder einmal habe ich Glück, denn ich lande bei den großartigen Gastgebern Artush und Raisa. Ihre zwei Kinder sind beide über zwanzig und leben mittlerweile in Eriwan und Moskau. Artush ist 58 Jahre alt. Er hat das Erdbeben hier in seinem Haus erlebt und erzählt mir, was damals passierte. Es war vormittags, als sich der Boden urplötzlich ruckartig um einen Meter hob, um dann auf diesem Niveau auf und ab zu schwanken. Anschließend fiel der Boden wieder schlagartig auf sein ursprüngliches Niveau zurück und begann dort heftig zu vibrieren. Das ganze Beben dauerte nur etwa eine Minute. Die Auswirkungen in der Stadt waren verheerend. Alle mehrstöckigen Gebäude wurden zerstört, es waren tausende. Darunter viele Schulen und Kindergärten, die vormittags natürlich voll besetzt waren. Für viele Familien eine Tragödie unermesslichen Ausmaßes. Artushs und Raisas Haus hatte glücklicherweise kaum Schäden. Es ist komplett aus Beton gebaut und einstöckig.

Wie haben die beiden die anschließende internationale Hilfe erlebt? Sehr interessant, dies mal “von der anderen Seite” zu hören. Bis zu diesem Zeitpunkt glaubten Raisa und Artush, wie fast alle hier, dass die Sowjetunion weltweit die Nr. 1 sei. Kein Wunder, denn bei den vielleicht größten Medienereignissen, den Olympischen Spielen, heimste die UDSSR stets die meisten Goldmedaillen ein und landete unangefochten auf Platz 1. Zudem hatten sie den ersten Menschen in den Weltraum geschickt, ein auch medial ausgiebig gefeierter Erfolg. Und so suggerierten die staatlichen Medien den Menschen, dass die Sowjetunion auch auf allen anderen Gebieten, sei es Technologie, Industrie, Wissenschaft, Medizin oder Infrastruktur, führend sei. Im Gegensatz zur DDR oder einigen Ostblockstaaten, in denen zum Teil (verbotenerweise) Westmedien empfangen werden konnten, gab es hier kaum andere Informationsquellen.

Und dann flogen aus aller Herren Länder die internationalen Hilfsorganisationen ein, auch aus fast jedem europäischen Land. Die Deutschen, Italiener, Franzosen, Schweden usw. brachten neuestes Equipment mit und leisteten nicht nur humanitäre Hilfe, sie bauten auch die Infrastruktur wieder auf, errichteten Schulen, Krankenhäuser, andere öffentliche Gebäude. Und plötzlich erkannten Artush und Raisa: wir sind ja gar nicht die Ersten, wir sind die Letzten. Man hat uns jahrzehntelang belogen. Was für ein Schock! Selten habe ich Geschichte so hautnah erlebt.

Nun ist es an der Zeit, sich die Stadt anzusehen. Mich interessiert vor allem die Altstadt. Sie stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist fast vollständig im Original “erhalten”. Erhalten im Zustand des 7.12.1988. Da ist hier die Zeit stehen geblieben und die Altstadt versank im Dornröschenschlaf. Durch das Erdbeben wurden viele Häuser so stark beschädigt, dass sie nicht mehr bewohnt werden konnten. Das Geld zur Restaurierung fehlte. Abgerissen wurde glücklicherweise nichts, die Altstadt steht auf irgendeiner UNESCO-Liste. Und so kann man durch die Straßen wandern und fühlt sich in die Sowjetunion des Jahres 1988 zurück versetzt. Eine spannende und unerwartete Zeitreise.

Am nächsten Tag heißt es dann Abschied nehmen von meinen Gastgebern. Zuvor präsentiert mir Artush aber noch einen Anbau, in dem er in kompletter Eigenarbeit drei Gästezimmer einrichtet, um in Zukunft ein gemütliches B&B anbieten zu können. Außerdem werde ich durch den schönen Rosen- und großen Nutzgarten geführt. Erstaunlich, was sie hier alles anbauen.
Schließlich offenbart mir Artush noch, dass er ausgebildeter Musiker ist und auch selbst komponiert. Das will ich mir natürlich anhören, und so bekomme ich ein kleines Privatkonzert. Zum Schluss singen mir Artush und Raisa sogar ein altes armenisches Volkslied vor. Dann ist es aber endgültig Zeit weiter zu fahren und schweren Herzens verabschiede ich mich von diesen beiden so sympathischen und liebenswerten Menschen.

Hier kann man sich das armenische Volkslied anhören. Die Dateigröße beträgt ca. 33 MByte.

Ein Visum für China beantragen – ganz großer Sport

Eriwan, Armenien

113. Reisetag

5590 Kilometer

 

Ich dachte doch wahrhaftig, es sei eine gute Idee, während meines Aufenthaltes in Eriwan mal so nebenbei ein Visum für China zu beantragen. Weil mir klar war, dass die Visabestimmungen letztens verschärft worden waren, kam ich gut vorbereitet. Im Gepäck hatte ich

– einen Visumantrag ( 4 Seiten )
– einen Zusatz zum Visumantrag für Ausländer ( 2 Seiten )
– Bescheinigung einer Auslandskrankenversicherung ( 1 Seite )
– Bescheinigung des Arbeitgebers ( 1 Seite )
– Reiseplan ( 1 Seite )
– Flugbuchung ( 1 Seite )
– Hotelbuchungen ( 2 Seiten )

Am Freitag, dem Tag nach meiner Ankunft in Eriwan, stehe ich bei der chinesischen Botschaft auf der Matte. Schließlich hat sie werktäglich von 10 bis 12 Uhr geöffnet. Ergebnis: heute keine Visaanträge, Montag wiederkommen.

Am Montag werde ich reingelassen. Der Besucherraum ähnlich einem Wartezimmer beim Arzt, circa 5 mal 6 Meter groß. Rechts eine Reihe Stühle, links ein Regal mit spannenden Berichten der letztjährigen Volkskongresse der kommunistischen Einheitspartei, in der Mitte ein Tisch, auf dem man seine Papiere sortieren kann und vor Kopf eine circa 2 Meter breite Trennscheibe mit kleinem Durchreicheschlitz für Unterlagen. Hinter der Scheibe nimmt der Konsul mit einem Mitarbeiter Platz.
Erstes Problem: man kann sich kaum verständigen, denn es gibt zwar eine Wechselsprechanlage, die funktioniert aber nicht. Also hält man sein Ohr in den Schlitz, hilft aber auch nicht viel. Als ich an der Reihe bin, schiebe ich meine Unterlagen durch den Gehörgang. Der Konsul schaut sie sich Seite für Seite genau an. Als er alle durch hat, fängt er wieder von vorne an. Das Ganze passiert gefühlte zehn Mal. Zwischendurch stellt er die ein oder andere Frage.
“Was ist das?”
“Eine Hotelbuchung.”
“Ah.”
Mich beschleicht das Gefühl, dass er Individualreisende wie mich, die zudem noch ein Visum in einem fremden Land beantragen, so lieb hat, wie Fußpilz.
Er sucht offensichtlich einen Grund, mich schnellstmöglich wieder los zu werden. Da er in den Unterlagen nichts findet, verlangt er jetzt von mir ein Schreiben der deutschen Botschaft, in dem diese alles Mögliche und Unmögliche bescheinigt, z.B. wo ich arbeite. Das ist natürlich völliger Blödsinn, denn woher soll die deutsche Vertretung in Armenien das wissen? Ich werde aber noch am gleichen Tag von unserer Botschaft mit einem schönen konsularischen Schreiben ausgestattet, in dem sie die chinesische Botschaft auch bittet, mich bei der Beantragung eines Visums zu unterstützen.

Nächster Tag: Dienstag. Ich bin direkt um 10:00 Uhr bei der chinesischen Botschaft. Allerdings lerne ich jetzt, dass der Konsul nur montags und donnerstags anwesend ist, um Visumanträge entgegen zu nehmen. Ich bitte den Angestellten, sich doch wenigstens das konsularische Schreiben anzusehen, ob es in Ordnung ist. Er liest es sich Wort für Wort durch und gibt sein ok. Die Entscheidung obliegt aber natürlich allein dem Konsul am Donnerstag.
“Wenn am Donnerstag mein Antrag akzeptiert wird, kann ich dann am darauffolgenden Montag das Visum erhalten?”
“Ja.”
Dann beginnt nämlich meine Trekkingtour in Georgien. Ich muss allerspätestens am Montag abreisen, und zwar mit meinem Pass, denn sonst komme ich nicht über die Grenze von Armenien nach Georgien.

Heute ist also Donnerstag. Heute kommt es drauf an. Wenn sie jetzt meinen Antrag nicht annehmen, habe ich verloren. Und was in den nächsten Stunden passiert, werde ich wahrscheinlich meinen Lebtag nicht vergessen.
Ich bin viertel vor zehn an der Botschaft. Diesmal sind schon zwei Damen vor mir da. Bisher war ich immer der Erste. Egal. Wir werden pünktlich eingelassen, aber der Konsul erscheint erst um halb elf. War beim letzten Mal auch so. Die beiden Mädels haben jede Menge Anträge und sonstige Angelegenheiten. Das dauert. Kurz vor elf schiebt mich der Konsul dazwischen. Er liest sich ganz langsam das Schreiben der deutschen Botschaft durch und ist offensichtlich zufrieden damit. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wenn ich jetzt aber gedacht habe, dass die Sache durch ist, bin schief gewickelt. Denn er beginnt wieder sein inzwischen bekanntes Spiel. Seite für Seite geht er die Unterlagen durch, hinten angekommen, fängt er vorne wieder an. Und beim x-ten Mal hat er dann was gefunden. Mein Flug nach China ist am 15. September von Frankfurt aus. Das geht nicht. Er kann mir ein Visum nur ausstellen, wenn ich von Eriwan fliege. Ich solle bei der Lufthansa den Flug umbuchen.
Das kann ich in einer Stunde, die mir noch bleibt, vergessen. Der Herr Konsul weiss das natürlich.
Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, diese Angelegenheit nicht mehr persönlich, sondern sportlich zu nehmen. Beim Tennis habe ich gelernt, auch in scheinbar aussichtslosen Situationen nie aufzugeben. Wie oft hat schon jemand 0:5 zurückgelegen und trotzdem den Satz noch gewonnen. Das passiert bei Profis genauso wie bei Amateuren.
Spielen wir also Tennis!
Ich werde mir einfach ein neues Ticket besorgen.
Inzwischen sind drei Mädels mit mir im Raum. Sie haben alles mitbekommen und stecken die Köpfe zusammen. Dann gucken sie eine von ihnen aus:
“She can help you!”
Ist das nicht einfach unglaublich?
Sie heißt Lucy und arbeitet in einem Reisebüro. Wir nehmen ein Taxi. Glücklicherweise ist es nicht sehr weit. Vor dem Reisebüro sind noch ein paar Treppen zu erklimmen, dann sind wir da. Drinnen sitzen zwei Damen am Computer, eine offensichtlich die Chefin. Lucy erklärt alles. Ein Ticket soll 560 Euro kosten. Nur Barzahlung, keine Kreditkarte. Gebühren, falls ich den Flug später stornieren sollte, 128 Euro. Das Geld habe ich nicht dabei. Die Geldautomaten hier spucken nur relativ geringe Beträge aus und ich weiss nicht, wie oft ich an einem Tag Geld ziehen darf. Zu zeitaufwändig, zu riskant. Dann können sie mir leider nicht helfen. Es hat keinen Zweck woanders hinzugehen, also bleibe ich sitzen. Nun schlägt die Chefin vor, eine offizielle Reservierung eines Fluges vorzunehmen, das könnte reichen. Gute Idee. Dummerweise dauert diese Prozedur quälend lange, da fast alle Daten meines Personalausweises in das System eingegeben werden müssen. Schließlich ist es geschafft, die Bestätigung wird ausgedruckt und mit Stempel und Unterschrift versehen. Dann zurück zur Botschaft. Es ist bereits nach halb zwölf. Inzwischen sind vier Damen im Warteraum, ich muss etwas warten und werde um zwanzig vor zwölf dran genommen.
Der Konsul ist nicht mehr da, ab jetzt habe ich es nur noch mit dem Mitarbeiter zu tun. Er schaut sich die Reservierung an und ist zufrieden. Wieder plumpst ein Stein. Doch dann kommt er mir mit etwas ganz Abstrusem. Er kann leider kein Original akzeptieren, ich soll ihm eine Kopie einreichen. Ich sage ihm, dass ich das Original nicht benötige, kann es mir abfotografieren und der Flug ist sowieso im Computer gespeichert.
“Nein, Kopie!”
Noch skurriler wird die Angelegenheit dadurch, dass er selbstverständlich im Büro einen Kopierer stehen hat. Der darf aber nicht verwendet werden.
Ok, ich sehe es sportlich. Er ist zum Fußball gewechselt und hat Foul gespielt. Mehr ist nicht passiert. Spielen wir also Fußball!
Es ist zwanzig vor zwölf, ich mache mich auf die Suche nach einem Kopierer. Ich laufe aus der Botschaft und nehme eine Unterquerung der viel befahrenen Straße, an der die Botschaft liegt. Und in diesem Tunnel entdecke ich wahrhaftig einen ganz kleinen Laden, in dem ein Mann neben einem Kopierer sitzt. Ich kann mein Glück kaum fassen! Für 4 Cent bekomme ich die Kopie und schon geht es zurück zur Botschaft. Das hat keine fünf Minuten gedauert.
Ich präsentiere M. die Kopie. Ja, das ist in Ordnung, aber jetzt kommt er mit dem finalen Schlag. Die Flugbuchung sei ja für September, sie muss aber noch für diesen Monat, den Juli, sein.
Ich erkläre ihm, dass mir das Visum für die Einreise ja drei Monate Zeit läßt. Ich könnte also bis Anfang Oktober einreisen, ein Flug im September reicht. Er akzeptiert es nicht. Mit einem etwas zu überlegenen Lächeln sagt er zu mir:

“THESE ARE THE RULES!”

Und so wie es sich anhört, könnte man das Gefühl haben, er sei wieder in eine andere Sportart gewechselt:

“SCHACH MATT um viertel vor zwölf.”

Im Raum nun völlige Stille. Die vier Damen, die sich angeregt unterhalten hatten, sind verstummt. Sie schauen mich mitleidig an, ziehen Schultern und Augenbrauen hoch.

War’s das?

Nicht ganz! Wenn M. die Sportart wechseln kann, dann kann ich das auch. Jetzt kommt nur noch eine Disziplin in Frage: Formel 1. Hier werden die Rennen in der Box entschieden und ich werde jetzt einen Boxenstopp im Reisebüro einlegen. Also raus aus der Botschaft, auf der Straße ein PS-Monster aus dem sowjetischen Lada-Rennstall gekidnappt, zum Reisebüro gedüst, die Treppen hochgestürmt. Die Mädels warten förmlich schon.
“Die gleiche Schei… nochmal, nur für Juli.”
Sie verstehen sofort und kennen natürlich auch die Öffungszeiten der Botschaft. Sie hauen in die Tasten, positionieren sich an Drucker und Kopierer. Meine Daten sind noch alle im Computer, die Änderung der Reservierung ist ruckzuck erledigt. Ausdrucken, Kopie nicht vergessen, fertig. Mädels, Ihr seid Spitze! Draußen wartet der Bolide mit laufendem Motor und um fünf vor zwölf bin ich wieder in der Botschaft. Beim Einlaufen stehen die vier Damen Spalier. Damit hat M. augenscheinlich nicht gerechnet.
Was kann jetzt noch passieren?
Die Unterlagen wird er kaum noch ein weiteres Mal beanstanden können. Eigentlich bleibt ihm nur noch, die Ausfertigung des Visums bis Montag in Frage zu stellen. Und genau damit kommt er mir jetzt. Er murmelt was von Bearbeitungsdauer, Abwesenheit des Konsuls und noch alles Mögliche.
Wenn da diese Scheibe nicht wäre, ich würde mich auf der Stelle als Freistil-Ringer versuchen und sämtliche Würgetechniken ausprobieren.
Aber auch jetzt ist sofort wieder Hilfe zur Stelle. Unbemerkt haben sich die vier Mädels neben mir vor der Scheibe in Position gebracht. Klar, wenn die sich mit irgendwas auskennen, dann mit der Prozedur der Visumausstellung. Fehlt nur noch, dass sie mich zur Seite schieben, nach dem Motto:
“Mach mal Platz Junge, jetzt übernehmen wir.”
Drei der Damen diskutieren mit M., eine flüstert mir Übersetzungen, Tipps und Antworten ins Ohr. Wie alles hier, ist auch diese Geschichte nicht trivial. Es gibt den normalen Service (3-5 Arbeitstage), den Express Service (2 Arbeitstage) und den Rush Service (1 Arbeitstag). Allerdings unterscheiden sich diese nicht nur durch die zu entrichtenden Gebühren, sondern unter anderem auch durch die Unterlagen, die man einreichen muss. Nicht ungefährlich.

Man einigt sich auf den Express Service bis Montag für 48 Euro, die ich bei der HSBC Bank einzahlen muss. Mit der Einzahlungsquittung soll ich dann am Montag erscheinen und das Visum abholen können.

Wer’s glaubt!
.
.
.
Heute ist Montag,
heute war ich in der Botschaft,
heute bin ich ein Engländer.

Fußball ist, wenn die Anderen gewinnen.

Wie oft schon hat England entscheidende Spiele verloren, gerne und legendär auch im Elfmeterschiessen. Schade, wo sie doch gerade für ihr fairplay so berühmt sind. Heute fühle ich mit ihnen.

Besonders verbunden bin ich in diesem Augenblick mit David Beckham. Zu seinen guten Zeiten unbestritten einer der besten Fußballer der Welt. Nach seinem Motto gefragt, antwortete er einmal:
“Never give up. Never ever!”
Jetzt verlasse ich Schulter an Schulter mit David das Spielfeld. Wir haben alles gegeben.
“David, was war eigentlich Dein schönster Erfolg?”
“Das Champions League Finale 1999 in Barcelona: Manchester gegen Bayern München.”
“Da lagt Ihr doch bis zur 90. + 1. Minute 0:1 zurück und habt doch noch gewonnen. Du hattest beide Vorlagen zum 2:1 Sieg gegeben.”
“Never give up. Never ever!”
Ich schaue auf mein China-Visum und denke:
Heute bin ich ein Engländer.

Will aus den USA radelt von Istanbul nach Singapur. Branislav, Marek und Roman aus der Slowakei touren durch den Kaukasus.

Am 25.06.2013 treffe ich die vier auf dem Weg von Vanadzor nach Dijilan. Will ist für zwei Jahre auf Weltreise und erledigt die Strecke von Istanbul nach Singapur mit dem Fahrrad. Er will von Baku mit der Fähre nach Aktau in Kasachstan übersetzen. Ab Usbekistan hat er dann die gleiche Route wie ich.
Hier seine Webseite.
Die drei netten Slowaken hat er erst gestern am Sevan-See getroffen. Sie sind für zwei Wochen in Armenien und Georgien unterwegs.
Alle vier fahren jetzt zusammen nach Tiflis, wo ich gerade herkomme.

Der Unfall

Kutaisi, Georgien

90. Reisetag

4730 Kilometer

Es ist 14:50 Uhr, ich fahre ganz rechts, auf oder sogar rechts neben der weißen Fahrbahnbegrenzung. Plötzlich ein dumpfer, lauter Knall und ein heftiger Stoß. Sofort denke ich: “Hier ist meine Reise zu Ende.”

Ich stürze und sehe dabei noch, wie ein Auto rotierend über die Straße in den Gegenverkehr trudelt und dann irgendwo verschwindet. Als ich auf den Schotterboden pralle, wird mir kurz schwarz vor Augen. Dann rappel ich mich, zugegeben jammernd, auf.
Das Ganze passiert vor einem Restaurant, der Schotterboden bildet den Parkplatz. Sofort stürzen Mitarbeiter und Gäste aus dem Restaurant und da ich wohl etwas verwirrt umhergelaufen sein muss, fangen mich die Leute ein und führen mich zu einem Stuhl, den sie in den Schatten gestellt haben. Auf dem Weg dorthin schaue ich auf die Straße und sehe den Verursacher nicht mehr. Komisch, dass ich sofort Unfallflucht vermute.
Als ich dann sitze, bemerke ich, wie zwei junge Frauen von der anderen Straßenseite herüber gerannt kommen. Sie waren in dem Unfallauto und kümmern sich sofort rührend um mich. Sowas habe ich noch nicht erlebt. Sie kühlen meinen Nacken, die Stirn, fühlen den Puls, sprechen mich immer wieder an, waschen die Wunden, geben mir zu trinken. Mein Kreislauf knickt ein, ich muss wohl kreidebleich gewesen sein. Sie tätscheln mir die Wangen, halten die Hand. Irgendwann geht es besser und ich frage, ob sie Krankenschwestern seien. Das ist nicht der Fall, aber das Zeug dazu hätten sie allemal. Beide heißen Natia.

Schnell ist die Polizei mit zwei Autos und vier Beamten da. Einer wird mir als der Chef vorgestellt. Die Beamten sind äußert nett und professionell. Immer wieder erkundigen sie sich nach meinem Befinden, wollen einen Krankenwagen kommen lassen, was ich aber ablehne.

Inzwischen sind auch die anderen Insassen des Autos da. Es stellt sich heraus, dass sie zu sechst im Wagen waren. Die Fahrerin mit ihrem zwanzigjährigen, behinderten Sohn, ihre 21-jährigen Tochter, der zweijährigen Enkelin, der Schwägerin Natia und der Freundin Natia, 22 Jahre alt. Schwägerin Natia erzählt mir von der Panik im Auto nach dem Aufprall. Sie dachte, dies sei das Ende. Was für ein Katastrophe hätte hier auf Georgiens Hauptverkehrsstraße M-1 passieren können. Um so bemerkenswerter finde ich, wie sie sich um mich kümmern.
Die Prozedur der Unfallaufnahme dauert ca. zwei Stunden. Zeit genug, die Schäden zu prüfen. Das Vorderrad meines Fahrrades hat ein Acht, sonst scheint es in Ordnung zu sein. Unglaublich. Der rote Packsack ist auf einer Fläche von 20cm x 20cm zerfetzt. Kann repariert werden. Die linke Gepäckträgertasche wurde aus der Verankerung gerissen und hat daher einige Schäden an der Aufhängung. Glücklicherweise können wir fast alle Teile finden, die Reparatur wird etwas schwieriger. Alles in Allem: Glück gehabt.

Als die Polizei fertig ist, bestehen die Mädels darauf, dass ich im Krankenhaus zumindest ambulant behandelt und untersucht werde. Ich willige ein.
Schön längst ist auch die nette Verwandtschaft mit einem Transporter eingetroffen. In diesen wird das Fahrrad geladen, dann geht es zum Krankenhaus. Die Fahrerin des Unfallautos, sie heißt Feride, hat sich bereits telefonisch um alles gekümmert. Arzt und Helferinnen sind sofort da. Nach der Versorgung der Wunden, Oberkörper frei machen, abhorchen und abtasten. Die beiden Natias und Feride stehen um mich rum, sprechen mit dem Arzt und drücken auch schon mal selber auf die ein oder andere Rippe bei mir, um zu sehen, ob es weh tut. Alles in Ordnung.
Dann geht es weiter zur Fahrradwerkstatt. Natürlich wissen alle schon, was passiert ist und sind sehr zuvorkommend. Das Vorderrad ist schnell gerichtet, mit der Tasche ist es aufwendiger, aber es klappt. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Nun frage ich, ob sie mich zu einem Hotel bringen könnten. Kommt ja überhaupt nicht in Frage. Ich würde selbstverständlich bei Ihnen übernachten und vorher gehen wir noch richtig schön georgisch essen. Das mit dem Essen überzeugt mich, also willige ich ein.
Zuerst geht es zu Ferides Wohnung, wir laden alles ab, machen uns frisch und fahren dann zum Restaurant. Auf dieser Fahrt sitze ich dann zum erstem Mal in dem Unfallauto mit der Unfallfahrerin am Steuer. Das ist schon ein komisches Gefühl. Gerade erst von der Straße geschossen worden und jetzt auf der Rücksitzbank. Sofort wird mir die Unfallursache bildhaft vor Augen geführt. So wie Feride fährt, würde sie beim Autoscooter auf der Kirmes Fahrverbot erhalten. Sie hat erst drei Jahre den Führerschein, fährt aber wie Michael Schumacher mit Augenbinde. Natia fragt mich, was ich von ihrem Fahrstil halte. Das muss man sich nach diesem Tag mal vorstellen! Ich antworte, sie sei zwar nett, aber das mit dem Autofahren solle sie lieber lassen. Und wie findet Natia ihren Fahrstil? “So, so.” Klingt auch nicht gerade überzeugt.
Beim Essen feiern wir den glücklichen Ausgang des Unfalls. Selten hat ein Bier so gut geschmeckt.
Zurück in der Wohnung bestehen Natia und Feride darauf, meine Klamotten zu waschen und so wird erstmal die Maschine angeworfen. Wir unterhalten uns noch eine Weile und irgendwann sinke ich dann todmüde in die Federn, obwohl sich das Schlafen wegen der Prellungen als etwas schwierig erweist.

Am nächsten Morgen möchte ich zur Polizei, um mir eine Kopie des Unfallprotokolls geben zu lassen. Natia ruft dort an, dann fahren wir los. Dort angekommen, will man uns keine Kopie geben. Wenn ich das richtig verstanden habe, muss dieses offizielle Dokument von einem Notar angefordert werden und die Erstellung dauert zehn Tage. Da haben Sie die Rechnung ohne die beiden Mädels gemacht. Unglaublich, wie die sich ins Zeug legen, obwohl sie doch nun wirklich nichts davon haben. Feride wurde als Unfallverursacherin ausgemacht und musste noch am Unfallort umgerechnet 125,–Euro Strafe bezahlen. Auf jedem Fall schaffen Sie es, dass einer der Beamten Feride eine Erklärung diktiert, die sie handschriftlich notiert und unterschreibt. Am Nachmittag sollen wir das Dokument abholen.

Die Zeit bis dahin verbringen wir mit Werkstattbesuchen. Das Auto ist nicht nur vorne rechts beschädigt, durch die Rückwärtslandung im Graben auch hinten recht erheblich.
Wenn ich unvoreingenommen die Schäden vorne und an der Seite gesehen hätte, und man hätte mir gesagt, dass sie beim Zusammenprall mit einem Radfahrer bei ca. 90 km/h entstanden sind, hätte ich nie geglaubt, dass jemand das unbeschadet überstehen kann. Der Schaden beginnt bereits vorne unterhalb des rechten Scheinwerfers, ich bin also nicht nur an der Seite gestreift worden. Der Kotflügel ist stark deformiert, wahrscheinlich durch die Gepäckträgertasche, der Rückspiegel ist abgerissen, wohl durch meinen roten Packsack, selbst hinten am Auto sind noch Schrammen. Der Zusammenprall war doch heftiger als ich gedacht hatte. Da bekomme ich noch mal weiche Knie und danke meinem Schutzengel.
Nach der Werkstatt-Tour kocht Feride ein schönes Mittagessen. Zwischendurch rufen in einer Tour Mütter, Tanten, Omas an, um sich nach dem Wohlbefinden von Andreas zu erkundigen. Feride ist von ihrer Mutter schon etwas genervt. Dann holen wir das Protokoll ab.

Für mich ist es bereits zu spät zum Weiterfahren. Die beiden Mädels müssen heute zu ihren Familien und so wird mir kurzerhand die Wohnung für die kommende Nacht überlassen, nicht ohne sich vorher zu versichern, dass es mir auch wirklich nichts ausmacht, hier alleine zu bleiben.

Ach wenn die Georgier doch nur halb so gut Autofahren könnten, wie sie nett sind!

Bauchgrummeln in der Türkei

Arhavi, Türkei

84. Reisetag

4527 Kilometer

Auf dem Weg von Zentral- nach Ost-Anatolien wird es bergig. Pässe von über 2000 m Höhe sind zu überwinden. Belohnt wird man durch schöne lange Abfahrten und herrliche Landschaften. Ich fahre durch verschiedene Anbaugebiete. Von Giresun am Schwarzen Meer kam die Kirsche erstmals über Italien nach Europa. Heute werden hier überwiegend Haselnüsse angebaut und damit 70% des Weltmarktes abgedeckt. In Rize bin ich dann im Hauptanbaugebiet für Tee in der Türkei.

Leider bekam ich irgendwann Bauchkrämpfe, sodass ich das alles gar nicht so recht geniessen konnte.

Diese sind fast sinnbildlich für meine Gefühle, die ich für dieses Land nach meinem fast siebenwöchigen Aufenthalt hege. Denn obwohl die Menschen hier weit überwiegend sehr herzlich und wirklich gastfreundlich sind, habe ich doch einiges Bauchgrummeln mit diesem Land. Als jemand, der Religionen eher kritisch gegenübersteht, beobachte ich mit Unbehagen, wenn eine Religion versucht, im Staat eine starke Position einzunehmen und bis ins Alltagsleben vorschreiben möchte, was man bzw. frau anzuziehen hat und was man essen oder trinken darf. Ich hoffe sehr, dass sich die offensichtlich vorhandenen konservativen Tendenzen in der Türkei nicht weiter Raum verschaffen.

Sivas – so schön, so traurig

Sivas, Türkei

72. Reisetag

3932 Kilometer

Wenn ich schon mal am Sonntagabend den “Tatort” einschalte, gelingt es mir fast nie, ihn wirklich bis zum Ende anzuschauen. Die Geschichten oft haarsträubend, die Schauspielkunst maximal Mittelmaß.

Ich weiss nicht mehr, wie es bei diesem Tatort war, aber ich hörte das erste Mal den Namen der türkischen Stadt Sivas, lernte etwas über einen Konflikt zwischen Moslems und Aleviten, erfuhr von einem Brandanschlag. Leider alles real und nicht ausgedacht.

Was war passiert in Sivas? Im Juli 1993 versammelten sich nach dem Freitagsgebet ca. tausend radikale Islamisten vor dem Hotel Madimak, in dem Intellektuelle und Aleviten ein Kulturfestival abhielten, darunter auch der Verleger der “Satanischen Verse” in der Türkei. Die Menge setzte das Hotel in Brand, über 30 Menschen starben. Das Grauen war im Fernsehen zu verfolgen, das Verhalten von Stadtverwaltung, Polizei und Feuerwehr war, gelinde gesagt, zwielichtig.

Die Situation ähnelt sehr den Vorkommnissen im deutschen Hoyerswerda, wo 1991 ein aufgebrachter Mob Rechtsradikaler unter den Augen der Öffentlichkeit ein von Ausländern bewohntes Haus in Brand setzte. Nur durch sehr viel Glück waren hier keine Toten zu beklagen, aber die Rolle der öffentlichen Instanzen war ebenfalls recht fragwürdig. Das Wort “ausländerfrei” wurde das Unwort des Jahres in Deutschland.

Schlimm für beide Städte, dass ihre Namen nun für immer mit diesen beiden Ereignissen verbunden sein werden.

Für Sivas tut es mir besonders leid, denn es ist eine ausgesprochen schöne, lebhafte Universitätsstadt mit langer Tradition und einer jungen Bevölkerung. Und sie hat mittlerweile aus der Geschichte gelernt. Das ehemalige Hotel wurde inzwischen von der Stadt übernommen, umgebaut und eine Gedenkstätte darin eingerichtet. Jedes Jahr erinnern mittlerweile zig-tausende Demonstranten am Gedenktag an die schlimmen Ereignisse. Sehr gut.

Aber das ist in Hoyerswerda ja auch so, oder?

Kappadokien und die fotogenen Musliminnen Anatoliens

Kappadokien, Türkei

62. Reisetag

3658 Kilometer

Gaby /Gastautorin:
“Reisen heißt entdecken” – und dafür muss man sich auch auf Menschen und Situationen entlang der Reiseroute einlassen – ist aber gar nicht so einfach, denn so manches Mal halten vorgefasste Meinungen oder übertriebene political correctness uns davon ab.

So z.B im anatolischen Gülağaç, wo Andreas und ich zufällig am Markttag vorbeikommen – und was für ein Markt: Hier gibt es alles von Obst und Gemüse über Käse und Oliven, lebende Hühner, Saatgut und Setzlinge, Haushaltswaren, Textilien und Schuhe bis hin zu Simit und Çay zur Stärkung beim Shopping. Doch trotz all dieser Vielfalt und der vielen Marktbesucherinnen und -besucher, modern oder traditionell gekleidet, fallen wir Zwei ziemlich auf, denn wir sind die einzigen ‘Reisenden’, die an diesem Tag neugierig über den Markt schlendern. Und so erregen auch wir Neugier und freundliches Interesse – eine Mutter versucht gar ihr Kind mit Hinweis auf uns vom Weinen abzulenken. Hat das eigentlich geklappt, Andreas?
Als uns aber zwei Frauen fröhlich lachend ansprechen und Zeichen vor ihren Augen machen, bin ich ziemlich ratlos: Was meinen sie denn? – soll ich meine Sonnenbrille abnehmen? – nein, ich glaube, sie möchten gern fotografiert werden! Und das wäre wahrscheinlich ein schönes Foto geworden, hätte mich vielleicht auch dazustellen können, damit Andreas uns knippsen kann – WENN NICHT die innere Stimme gewarnt hätte: Soll ich so einfach zwei fremde Musliminnen fotografieren? Oder alternativ: Verlangen die zwei, wie das in so mancher Touri-Hochburg (die Gülağaç sicher nicht ist) passiert, danach ein Modelgehalt? Schade, eine verpasste Gelegenheit!

Andreas:
Sowas passiert. Oft weiß man eben auf die Schnelle gar nicht, wie man in einer ungewohnten Situation reagieren soll. Aber es ist ja Zeit genug, Verpasstes nachzuholen. Ich mache einfach mal die Probe aufs Exempel und fotografiere ein paar Musliminnen, natürlich nicht ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen.

Diese junge Frau traf ich in einer Medresse. Sie suchte mit ihrer Freundin offensichtlich einen Hut für ihre Abschlussfeier aus. Alles muss zusammenpassen: Hut, Talar und eben das Kopftuch. Als ich fragte, ob ich sie fotografieren darf, ging sie sofort in Pose, machte den Mantel zu, stellte sich kerzengerade ins Profil und legte ihr Lächeln auf. Zum Abschied sagte sie “Thank you!”.

 

Dieses Pärchen fiel mir auf, weil es in aller Öffentlichkeit schmuste. Sie schien sehr traurig und hatte ihren Kopf auf seine Schultern gelegt. Dazu die Rose in ihrer Hand. Sie unterhielten sich nicht. Steht vielleicht ein Abschied bevor? Aber auch sie lächelte, als ich sie fotografierte, obwohl man sieht, dass es ihr nicht leicht fällt.

 

 

Solche Grüppchen sah ich sehr oft in Sivas. Sie sind zwar sehr traditionell gekleidet, aber ihr Verhalten scheint sich von anderen Jugendlichen hier kaum zu unterscheiden. Ich fand es ulkig, als Eine ihrer Freundin zurief “give me five!” und die Hand zum Abklatschen hob. Sie freuten sich offensichtlich sehr, dass ich sie fotografierte.

 

 

 

In Sivas kann man wohl unter anderem Kunst studieren, denn an einem Tag gab es eine Ausstellung im Freien vor der Buruciye Medresse. Als Dress Code für die Studierenden wurde offensichtlich “unten schwarz, oben weiß” ausgegeben. Eine Studentin trug eine knallenge weiße Bluse, schwarze Leggins, schwarze High Heels mit richtig hohen Absätzen und ein schwarzes Kopftuch. Welch ein Kontrast. Das sehr körperbetonte Outfit und das traditionelle Kopftuch. Leider kam mir die Idee, Musliminnen um Fotos zu bitten, erst später, sodass ich sie nicht geknipst habe.
Wieder eine verpasste Gelegenheit?
Nein, ich habe sie ja gesehen.
Ihr habt sie verpasst.
Ätsch!

Ephesus und die großen Geschäfte

Ephesus, Türkei

49. Reisetag

3465 Kilometer

Ephesus ist für alles Mögliche berühmt, unter anderem dafür, dass hier mit dem Tempel der Artemis eines der sieben Weltwunder der Antike stand.
Bevor ich hier eintraf waren schon andere, ebenfalls recht bekannte Persönlichkeiten da, u.a. König Krösus, Alexander der Große und die Römer, die Ephesus zur Hauptstadt des Römischen Reiches für die Provinz Asien machten. In dieser Zeit wohnten bis zu 250.000 Menschen in dieser Stadt.

Ephesus ist riesig, bei weitem die größte ausgebuddelte Stadt, die ich bisher gesehen habe. Allein das Zusammensetzen der bereits freigelegten Teile wird noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Und da bisher erst ca. 18% der Stadt überhaupt ausgegraben wurden, hat man hier noch Jahrhunderte zu tun. Die vielleicht wichtigsten und interessantesten Teile der Stadt sind wunderbar zu besichtigen, also z.B. Bibliothek, Amphitheater, Tempel, Agora und die Latrinen.

Diese öffentlichen Toiletten waren damals ja ein geselliger Treff. Was heute für viele deutsche Männer der Stammtisch oder für die Türken das Teehaus ist, war früher schlicht und einfach der Donnerbalken. Gesellig saß man Pobacke an Pobacke, schwatzte über Gott und die Welt, aß ausgiebig zusammen, wickelte handfeste Geschäfte ab (daher ja auch dieser Ausdruck) oder chillte einfach (für unsere Jugend).

Mein englischer Lonely Planet Reisefüher bringt es folgendermaßen auf den Punkt:

“… even if you had a private bathroom at home you would often come to the public toilets to shoot the shit with your friends (sorry, we had to say that)…”

Aus nachvollziehbaren Gründen waren die Räumlichkeiten oben offen. Die perfekte Lüftung. Und damit unter freiem Himmel niemand frieren mußte, waren die Wände im Winter sogar beheizt.

Wer angesehen und vermögend war, konnte exklusives Mitglied einer öffentlichen Toilette werden und einen Sitzplatz für sich reservieren. Da stelle ich mir vor, wie der Herr Bürgermeister reinkommt, zu seinem angestammten Sitzplatz geht, der aber gerade besetzt ist.
“Das ist mein Platz!”
“Ich bin gerade bei einem wichtigen Geschäft.”
“Egal, weg da!”
Steht der dann auf und trippelt mit bis zu den Knöcheln runtergelassener Hose und blankem Hintern an der Sitzparade vorbei zum nächsten freien Platz?

Wie auch immer. Wer heute was auf sich hält, ist in einer Charity Organisation, einem Business Club, bei Amnesty International, den Lions, den Rotariern oder beim FC Bayern München. Früher dagegen hieß es in der besseren Gesellschaft einfach:

“Und in welchem Scheißverein sind Sie?” (Entschuldigung, aber das mußte einfach sein!)

Troja – Mann oh Mann Schliemann

Troja, Türkei

42. Reisetag

2985 Kilometer

Bis zu meinem Besuch der Überreste von Troja dachte ich wirklich, der deutsche Heinrich Schliemann sei ein angesehener Archäologe und ehrenwerter Mann. Schließlich gilt er als Entdecker Trojas. Ich bin eines Besseren belehrt worden.

Schliemann war auf der Suche nach Troja. Da trifft er zufällig an den Dardanellen den Briten Frank Calvert. Der suchte ebenfalls nach der alten Stadt. Dummerweise hat Calvert zuerst an einer falschen Stelle gebuddelt und ist nun pleite. Er empfiehlt Schliemann einen Hügel, da muss Troja sein. Schliemann, Typ erfolgreicher Geschäftsmann mit teurem Hobby, kann vor lauter Geld in den Taschen kaum laufen und läßt sich nicht zweimal bitten. Aber was macht der Kerl? Anstatt die verschüttete Stadt behutsam freizulegen, treibt er mal eben eine 17 Meter tiefe und 20 Meter breite Schneise quer durch den Hügel. Archäologen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Seine Tat geht als “Schliemann-Graben” in die Geschichte ein. Es zeigt sich, dass Schliemann in Wirklichkeit nämlich gar kein Archäologe, sondern nur ein simpler Schatzjäger ist. Tatsächlich findet er Kostbarkeiten und nennt sie großspurig Schatz des Priamos. Fast überflüssig zu bemerken, dass Schliemann auch bei der Datierung des Schatzes voll daneben liegt. Entgegen der Abmachungen mit der lokalen Regierung, nimmt er den Schatz an sich, schmuggelt in außer Landes und macht ihn “dem Deutschen Volke” zum Geschenk.

Schäm Dich Schliemann! Wir wollen Deine geklauten Geschenke nicht!

Seit dem zweiten Weltkrieg ist Russland übrigens im Besitz der Kostbarkeit und stellt sie in Moskau aus. Die Türkei bemüht sich bisher vergebens um eine Rückführung.

Ansonsten ist Troja nicht wirklich einen Besuch wert. Man braucht schon sehr viel Fantasie, um sich die Stadt in seiner ursprünglichen Form vorzustellen. Wie um dieses Defizit auszugleichen, hat man ein großes trojanisches Pferd nachgebaut, dass man, wenn nicht gerade Bauarbeiten im Gange sind, auch im Innern erklimmen kann.
Na ja, wer’s mag.
Aber allemal besser als ein Schliemann-Graben!

Dardanellen – von Mutterliebe, Gott, Natur und Wichtigerem

Kabatepe, Türkei

41. Reisetag

2940 Kilometer

Es ist der 25.04.1915. Lassen wir mal dahingestellt, wer in diesem Konflikt zuerst geschossen hat. Davon können wir Deutsche ja auch ein Lied singen. Auf jedem Fall starten an diesem Datum Einheiten des British Empire, vor allem aus England, Neuseeland und Australien, in Allianz mit Frankreich, ihren Versuch, die Hauptstadt des Osmanischen Reiches, Istanbul, zu erobern. Das ist nicht so einfach, denn um mit einer Flotte aus dem Mittelmeer dorthin zu gelangen, muss man durch eine kleine Meerenge, die Dardanellen, oder auch die Straße von Çanakkale genannt. Dieses schmale Gewässer ist zugleich der Übergang von Europa nach Asien, ähnlich dem Bosporus in Istanbul. Umgeben ist die Meerenge also sozusagen vom Festland auf asiatischer und von der schmalen, länglichen Halbinsel Gallipoli auf europäischer Seite. Zu besagtem Datum landen die Angreifer auf dieser Halbinsel. Es folgen die schlimmsten Kämpfe des ersten Weltkrieges. Circa 150.000 Soldaten sterben, auf einem Schlachtfeld der Größe eines Fußballfeldes allein 7.000. Zudem sind mehr als eine Viertelmillion Verletzte zu beklagen. Gemessen an der Bevölkerung erleiden die Australier die größten Verluste. Es war ihr erster Kriegseinsatz überhaupt. Nach neun Monaten müssen sich die Angreifer geschlagen zurückziehen. Auf türkischer Seite befehligte ein u.a. ein Offizier namens Mustafa Kemal die Truppen. Hier wird er zum Volkshelden. Später wird er zum Gründer der modernen Türkei, nennt sich dann Atatürk, “Vater der Türken”. Sein Konterfei ist überall im Land zu finden, natürlich auch auf einem Geldschein. Unter anderem setzt er die Trennung von Staat und Kirche durch. Eine Großtat in diesem Land.

Die Halbinsel Gallipoli ist heute eine Pilgerstätte. Zu meinem großen Erstaunen aber nicht nur für die Türken, sondern auch für Neuseeländer und Australier. In Folge des ersten Weltkrieges zerfiel eben nicht nur das Osmanische Reich, sondern auch das British Empire. Alle drei Staaten sehen in dem 25.04.1915 die Initialzündung zur Gründung ihrer selbständigen Staaten. So ist in Neuseeland und in Australien der 25.04. heute einer der höchsten Feiertage.

Der Zufall will es so, dass ich die Halbinsel am Wochenende nach dem 25.04. durchfahre. Es reiht sich Bus an Bus. Alle ehemaligen Schlachtfelder sind heute Gedenkstätten, es gibt unzählige Friedhöfe und mehrere Informationszentren. Ich besuche das vielleicht modernste in Kabatepe. Der Eingang riesig, die äußere Erscheinung ehrfurchteinflößend. Im Inneren bin ich zuerst etwas enttäuscht, denn es gibt nur zwei halbe Etagen mit Ausstellungsstücken. Dazu soll es noch einen Film geben. Dieser Film entpuppt sich später als eine der modernsten Multimedia-Shows, die mir bisher untergekommen ist. Insgesamt gibt es 11 Themenräume, die man nacheinander durchläuft. Ich bekomme ein Audioguide, das die Texte der eingespielten Filme nicht intern gespeichert hat, sondern per Infrarot empfängt. Dadurch erhält man eine Simultan-Übersetzung aller Szenen. In jedem Raum werden Stadien der Auseinandersetzung thematisiert. In einem wird man auf eines der englischen Schiffe versetzt. Der Boden schwankt so stark, dass man sitzen muss. Im Weiteren gibt es 3D Filme, in denen einem die Granaten um die Ohren fliegen, 360 Grad Projektionen, einen Raum mit Liegesitzen und Kuppel, wie im Planetarium, Schützengräben, durch die man läuft, alles sehr erschreckend echt. Irgendwie bin ich froh, als ich wieder raus bin.
Dann besuche ich die kleine Ausstellung. Was man so kennt: Schuhe, Gewehre, Feldflaschen, Alltagsgegenstände der armen Kerle. Dann aber entdecke ich einen ins Englische übersetzten Brief eines türkischen Soldaten, den er zwei Tage vor seinem Tod geschrieben hat. In poetischen Worten huldigt er seiner Mutter, dem Gott im Himmel, der Natur. Sehr ergreifend. Ich bin gespannt, wie er sein recht schwülstiges Schriftstück wohl beenden wird. Und dann kommt die Überraschung, die diesen Menschen für mich dann doch so sympathisch macht.

“Liebe Mutter, ich brauche keine Unterwäsche. Ich habe Geld.”

Herrlich.

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