Dardanellen – von Mutterliebe, Gott, Natur und Wichtigerem

Kabatepe, Türkei

41. Reisetag

2940 Kilometer

Es ist der 25.04.1915. Lassen wir mal dahingestellt, wer in diesem Konflikt zuerst geschossen hat. Davon können wir Deutsche ja auch ein Lied singen. Auf jedem Fall starten an diesem Datum Einheiten des British Empire, vor allem aus England, Neuseeland und Australien, in Allianz mit Frankreich, ihren Versuch, die Hauptstadt des Osmanischen Reiches, Istanbul, zu erobern. Das ist nicht so einfach, denn um mit einer Flotte aus dem Mittelmeer dorthin zu gelangen, muss man durch eine kleine Meerenge, die Dardanellen, oder auch die Straße von Çanakkale genannt. Dieses schmale Gewässer ist zugleich der Übergang von Europa nach Asien, ähnlich dem Bosporus in Istanbul. Umgeben ist die Meerenge also sozusagen vom Festland auf asiatischer und von der schmalen, länglichen Halbinsel Gallipoli auf europäischer Seite. Zu besagtem Datum landen die Angreifer auf dieser Halbinsel. Es folgen die schlimmsten Kämpfe des ersten Weltkrieges. Circa 150.000 Soldaten sterben, auf einem Schlachtfeld der Größe eines Fußballfeldes allein 7.000. Zudem sind mehr als eine Viertelmillion Verletzte zu beklagen. Gemessen an der Bevölkerung erleiden die Australier die größten Verluste. Es war ihr erster Kriegseinsatz überhaupt. Nach neun Monaten müssen sich die Angreifer geschlagen zurückziehen. Auf türkischer Seite befehligte ein u.a. ein Offizier namens Mustafa Kemal die Truppen. Hier wird er zum Volkshelden. Später wird er zum Gründer der modernen Türkei, nennt sich dann Atatürk, “Vater der Türken”. Sein Konterfei ist überall im Land zu finden, natürlich auch auf einem Geldschein. Unter anderem setzt er die Trennung von Staat und Kirche durch. Eine Großtat in diesem Land.

Die Halbinsel Gallipoli ist heute eine Pilgerstätte. Zu meinem großen Erstaunen aber nicht nur für die Türken, sondern auch für Neuseeländer und Australier. In Folge des ersten Weltkrieges zerfiel eben nicht nur das Osmanische Reich, sondern auch das British Empire. Alle drei Staaten sehen in dem 25.04.1915 die Initialzündung zur Gründung ihrer selbständigen Staaten. So ist in Neuseeland und in Australien der 25.04. heute einer der höchsten Feiertage.

Der Zufall will es so, dass ich die Halbinsel am Wochenende nach dem 25.04. durchfahre. Es reiht sich Bus an Bus. Alle ehemaligen Schlachtfelder sind heute Gedenkstätten, es gibt unzählige Friedhöfe und mehrere Informationszentren. Ich besuche das vielleicht modernste in Kabatepe. Der Eingang riesig, die äußere Erscheinung ehrfurchteinflößend. Im Inneren bin ich zuerst etwas enttäuscht, denn es gibt nur zwei halbe Etagen mit Ausstellungsstücken. Dazu soll es noch einen Film geben. Dieser Film entpuppt sich später als eine der modernsten Multimedia-Shows, die mir bisher untergekommen ist. Insgesamt gibt es 11 Themenräume, die man nacheinander durchläuft. Ich bekomme ein Audioguide, das die Texte der eingespielten Filme nicht intern gespeichert hat, sondern per Infrarot empfängt. Dadurch erhält man eine Simultan-Übersetzung aller Szenen. In jedem Raum werden Stadien der Auseinandersetzung thematisiert. In einem wird man auf eines der englischen Schiffe versetzt. Der Boden schwankt so stark, dass man sitzen muss. Im Weiteren gibt es 3D Filme, in denen einem die Granaten um die Ohren fliegen, 360 Grad Projektionen, einen Raum mit Liegesitzen und Kuppel, wie im Planetarium, Schützengräben, durch die man läuft, alles sehr erschreckend echt. Irgendwie bin ich froh, als ich wieder raus bin.
Dann besuche ich die kleine Ausstellung. Was man so kennt: Schuhe, Gewehre, Feldflaschen, Alltagsgegenstände der armen Kerle. Dann aber entdecke ich einen ins Englische übersetzten Brief eines türkischen Soldaten, den er zwei Tage vor seinem Tod geschrieben hat. In poetischen Worten huldigt er seiner Mutter, dem Gott im Himmel, der Natur. Sehr ergreifend. Ich bin gespannt, wie er sein recht schwülstiges Schriftstück wohl beenden wird. Und dann kommt die Überraschung, die diesen Menschen für mich dann doch so sympathisch macht.

“Liebe Mutter, ich brauche keine Unterwäsche. Ich habe Geld.”

Herrlich.